Ein anderes Leben
Hell yes, they are all dead, it’s true.
Vorne am einen Ende der Grube wurden die Scheinwerfer eingeschaltet.
Es war schließlich an der Zeit, zu erklären, dass die Befreiung gescheitert war. Dass sämtliche israelischen Sportler getötet worden waren, plus fünf Araber, plus ein Polizist. Dass insgesamt fünfzehn Leichen verstreut lagen am Ort des Massakers von Fürstenfeldbruck, einem Flugplatz, von dem bisher niemand je etwas gehört hatte. Alle tot. Hell yes they are all dead it’s true . In dieser Nacht hatten fünf schlecht ausgestattete deutsche Scharfschützen aus der Befreiungstruppe im Halbdunkel und aus großer Entfernung versucht, die Israelis von ihren Bewachern freizuschießen, und es war misslungen. Handgranaten explodierten, Hubschrauber brannten. Keiner sollte im nachhinein sagen können, wer wen getötet hatte.
Aber die Jagd war zu Ende.
Es war eine Nacht ohne Müdigkeit, aber nach der Pressekonferenz – Alle sind tot – hatte die Auflösung eingesetzt. Die Grube hatte sich nicht mehr geleert, und diejenigen, die blieben, hatten sich entschieden zu trinken. Sie hatten sich über Sofas und Stühle und auf dem Fußboden des jetzt übel riechenden rauchverhangenen Riesenraums ausgebreitet, und an diesem grauklaren Morgen herrschte hier nur fassungslose, dumpfe Verwirrung. Schmutz überall. Erbrochenem gleich bedeckten Weinpfützen, umgeworfene Aschenbecher und zerbrochene Gläser den Boden und gaben der Grube eine unbeschreibliche Atmosphäre von Niederlage und katastrophalem Verfall. Viele schliefen, über Tischen und Sesseln liegend, schliefen mit offenen Mündern, die Hemden am Hals aufgerissen, wo die einst so kostbaren, geliebten und gehegten Akkreditierungskarten jetzt hingen; sie schliefen ihre Niedergeschlagenheit und ihren Rausch aus.
Er setzte sich zu ihnen.
Die Texte waren abgeliefert. Die Nacht war vorbei, aber wie es auch weitergehen sollte, und das wusste niemand zu sagen, diese Olympischen Spiele in München 1972 waren auch vorbei. Danach würde vermutlich die Trauerfeier stattfinden, die den Schlusspunkt unter die zwanzigsten Olympischen Spiele in moderner Zeit setzen sollte, und er würde auch dieser beiwohnen.
Trauerfeier , ein so sonderbares Wort. Die Trauer zu feiern.
Was hatte er hier miterlebt? Vielleicht einen Wendepunkt in der Geschichte, nicht nur den Triumph des Terrorismus über den Traum des Spielerischen, sondern auch eine Demonstration der Veränderung moderner Kriegführung, des Übergangs vom Kampf zwischen Armeen zum Terror gegen Zivilisten, von den Analysen des großen Militärstrategen Clausewitz über die Effektivität umfassender Truppenbewegungen zur Intifada, dem 11.9., Irak, und zur Durchsuchung von Vorortküchen in den Slums, um den Feind zu identifizieren. Wenn es so kommen würde, und später sollte er immer stärker davon überzeugt sein, dann gab es sicher Grund für eine Trauerfeier , um zu markieren, dass die Geschichte sich um ihren Schwenkzapfen gedreht hatte.
Er wohnte auch dem Abschied von den Spielen bei.
Alles war gedämpft, als ob man im Olympiastadion versuchte, alles abzuschwächen, eine angemessene Freude zu bewerkstelligen, einen gehauchten Freudenschrei oder ein lautes Flüstern. Die Spiele waren ja noch drei Tage weitergegangen. Man durfte nicht nachgeben. Weitermachen, aber ohne Heiterkeit . Jetzt mit Trauer spielen. Er litt mit den Spielen, fühlte eine eigentümliche Identifikation mit dieser Stadt. Es war ja so schön gedacht, und endete so schlimm.
Wenn alles so gut angefangen hatte, wie konnte es so schlimm enden.
Es war schwer, das rechte Maß an Trauer zu wahren, besonders während der Trauerfeier . Das Olympiastadion voll besetzt, er nahm mit ihnen allen daran teil, solidarisch. Eine Gedichtzeile aus T. S. Eliots Das wüste Land , an das er später immer als ein Münchengedicht denken sollte, rotierte in seinem Kopf, ›Mein Freund, was haben wir gegeben? Das erschreckende Wagnis der Hingabe eines Augenblicks.‹ Und jetzt war diese Hingabe an den Traum vom spielenden Menschen auch nur noch ein wüstes Land.
War dieses Wagnis nicht trotz allem einen Versuch wert gewesen?
Das Orchester spielte My sweet Lord , während die Teilnehmer langsam den Innenraum verließen und einige versuchten, in improvisierten Kreisen zu laufen, wie es der Brauch war bei Abschlussfeiern von Olympischen Spielen, also bevor die Trauer über diese Spiele hereinbrach. My sweet Lord , und er saß zusammen mit den anderen fünfzigtausend, und
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