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Ein anderes Leben

Ein anderes Leben

Titel: Ein anderes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Enquist
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alle waren sie in ihren Regenjacken zusammengekrochen und schwenkten die kleinen Stableuchten, die verteilt worden waren und Gemeinschaft und Freude ausdrücken sollten; und er würde sich immer an dieses My sweet Lord erinnern und an die schwarzen Regenwolken, die sich drohend von Westen über München heranwälzten, und dann der plötzliche schwere Regen, der auf sie alle fiel, wie um schonungslos ein Zeichen zu setzen, dass alles vorbei war.

Er fuhr nach Hause.
    Nach Hause bedeutete wirklich nach Hause: Er saß zehn Tage in der Küche der Seniorenwohnung seiner Mutter in Bureå. Das Fenster wies zur Kirche, er stellte seine Schreibmaschine auf den Küchentisch und hatte sämtliche Artikel und Aufzeichnungen und Skizzen und Tagebuchnotizen vor sich, die er in München gemacht hatte. Und er schrieb ein Buch, das er Die Kathedrale in München nannte.
    Die Küche war der richtige Ort. Genauso wie Westberlin der richtige Ort für die Geschichte über Christian Engnestam-Lindner, seinen mogelnden Vater, den Sport und die DDR gewesen war, und darüber, wie es war in der Mitte des europäischen Wahnsinns, so war die Küche in der Seniorenwohnung seiner Mutter der richtige Ort für das Buch über München.
    Als er es nach diesen zehn Tagen fertig geschrieben hat, liest er das Manuskript durch. Ist dies nicht die beste Reportage über Sport, die je auf Schwedisch geschrieben worden ist, denkt er. Er hebt danach den Blick vom Küchentisch seiner Mutter, sieht die Kirche von Bureå und alles, wofür sie steht, ruft sich seine mit Mühe eingeübte Demut in Erinnerung und denkt daran, was der Sportchronist von Norra Västerbotten , Mr. Kuri, bei Heimspielen von Hjoggböle zu schreiben pflegte.
    Was hätte Merrkuri gesagt? ›In der Rolle als Kiefer liefert Enquist eine gediegene Leistung ab.‹
    Jetzt, bald? Nein, noch nicht.

Kapitel 10
DER HERBST AM BROADWAY
    Er besuchte die Grotte der toten Katzen am 23. Mai 1990, zum ersten Mal nach der Rückkehr von Island.
    Der Bensberg noch da, der Wald ebenso, und die Grotte, der eigentliche Schauplatz, an dem er in Kapitan Nemos Bibliothek Eeva-Lisas Wiederauferstehung inszenierte . Aber es war jetzt anders. Er fuhr zurück zum Flugplatz, notierte kurz: ›Alles ist anderst .‹
    Die Grotte war kleiner, wirkte gleichsam geschrumpft. Der Berg war niedriger. In der Grotte nichts mehr zu finden, auch nicht das einst ganz reine Skelett einer Katze.
    Alles schrumpft. Am Ende ist vielleicht überhaupt nichts mehr da. Man muss sich wohl beeilen, bevor alles wegschrumpft. Das ist es wohl, was zusammenfügen meint.
    Im Dezember 1972 kommt er mit Frau und zwei Kindern nach Los Angeles und als Gastprofessor ans UCLA.
    Es ist ein angenehmes Leben. Er glaubt schreiben zu können, kann aber nicht. Schon in der zweiten Woche sucht er das Haus auf, in dem Brecht wohnte. Es wächst dort ein Baum, der heute wie damals das Haus überschattet. In seinem Schatten Brecht und Thomas Mann. Brecht muss dort gearbeitet haben, war es Mahagonny ?
    Er selbst kann auf jeden Fall nicht schreiben.
    Er hebt den Arm, er fällt nicht auf die Tasten. Er versucht, die Hand, die sich geweigert hat, zu zwingen. Aber nein. In Kalifornien ist es leicht, geheimnisvoll schwachen Signalen aus der Welt nachzugeben, die verführerisch ist, und nicht asketisch, nicht fordernd. Running on the beach. Das leichte kalifornische Licht. Killing me softly im Autoradio. Sich einfach mittreiben lassen. Marie Marie, jetzt geht es los .
    Es ist die intensivste Phase des Vietnamkriegs, die Weihnachtsbombardements von Hanoi; die letzten fünf Jahre hat er wie ein Teil dieser europäischen Debatte gelebt. Einige seiner Freunde finden es absonderlich, dass er ein Jahr im Nest der amerikanischen Aggressoren zubringt. Sollte man nicht boykottieren? Er weiß nicht, was er antworten soll. Am Ende beschließt er, dass es richtig ist, hier zu sein.
    Hat er nicht auch beträchtliche Zeit zum Beispiel in der Sowjetunion oder der DDR verbracht?
    Die ersten Vietnamdemonstrationen hat er im Frühjahr 1966 auf dem Times Square in New York erlebt. Fünfzig junge Menschen, die mit Plakaten im Kreis gingen und beschimpft wurden. Dann der Bürgerrechtsmarsch in den Südstaaten, auch der veränderte sein Leben. Wenn sich sein Leben so unaufhaltsam verändert, müsste es ihm nicht stärker anzumerken sein? Was ist aus ihm geworden?
    Was ist passiert? Ist es passiert? Sollte er sich hier am UCLA befinden?
    Im Bauch des Walfischs zu ruhen , wer hat das

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