Ein anderes Leben
geschrieben, war es H. G. Wells? Es ist auf jeden Fall ein Gedanke, im Innern eines Geschehens zu ruhen. Oder die Augen zu verschließen?
Jeden Morgen um sechs Uhr wird er wach und schaltet den Fernseher ein, die Watergate-Verhöre.
Es ist blendende Unterhaltung von der Ostküste, politisches Theater auf höchstem Niveau. Er unterrichtet ›Skandinavische Gegenwartsliteratur‹ und hält ein Fortgeschrittenenseminar über Strindberg ab, weitet jedoch das Stoffgebiet aus, da es ihm zu eng erscheint. Die Studenten sind wunderbar, fröhlich, begabt und erschreckend unwissend in bezug auf alles, was jenseits der Grenzen der USA liegt; er entdeckt in einer Seminarsitzung, dass es für die meisten von ihnen eine schockierende Einsicht ist, dass die Sowjetunion während des Zweiten Weltkriegs auf der gleichen Seite stand wie die USA. Alliierte? Sie lächeln ihn wohlwollend, aber zweifelnd an: Kann das wirklich stimmen? Die Kommunisten?
Bekümmert schreibt er eine Zusammenfassung der Weltgeschichte an die schwarze Tafel: ›Die Sowjetunion hat uns vor dem Nationalsozialismus gerettet, die USA haben uns vor dem Kommunismus gerettet.‹
Das ist auf jeden Fall kurz.
Bei den Festen, zu denen er immer mit eingeladen wird, rauchen seine Studenten Marihuana, was soll er sagen. Schwedische Literatur finden sie weniger interessant, aber Ingmar Bergman verehren sie: Wie Derwische schlagen sie bei der bloßen Erwähnung seines Namens die Stirn auf den Boden. Er resigniert, bestellt vom Filminstitut in Schweden eine Reihe von Bergman-Filmen und arrangiert zusammen mit den netten Leuten vom Filmclub der Universität eine Bergman-Woche. Es sind junge Enthusiasten, die mit der Zeit sicher weltberühmte Namen wie Steven Spielberg oder George Lucas werden. Er erinnert sich kaum noch an sie, abgesehen von ihrer Begeisterung für Bergmans Werbefilme aus dem Jahr 1953, von denen dieser während einer Filmpause lebte. Sie finden sich auf einer der vom Filminstitut geschickten Rollen und haben pyramidalen Erfolg. Der Saal ist an diesem Abend voll besetzt, alle bezeichnen sie die Filme als meisterlich, auf eine Weise genial, unklar, auf welche Weise.
Im Film für Stomatol ist eine sehr junge Bibi Andersson bezaubernd in der Rolle des angegriffenen Zahns, oder der Bakterie, er hat vergessen, welches von beiden. Oder ist es für Bris? Auf jeden Fall ist sie sehr gut. Sie liefert eine gediegene Leistung ab. Auf Schönheit reagiert er noch, und das wird immer so bleiben, mit der eruptiven Empfindsamkeit eines groß gewordenen Teenagers. Seine zweite Frau gleicht Kim Novak. Das war der erste Eindruck, eine junge Kim Novak. Er behält es für sich, drückt die Karten fest an sich, oder schämt sich. Bibi sehr jung in der Bris-Reklame.
Stomatol? Nein, es war doch eher Bris.
Er spielt Handball in der Universitätsmannschaft, wirft am Anfang viele Tore, fühlt sich wieder jung, aber ein schwedischer Schauspieler namens Bo Svensson bricht ihm im Training einen Finger. Zwei Meter Büffel. Auch die Handballkarriere endet also hier, und er verspürt einen Stich von Reue. Wieder einmal. Wieviel Zeit seines Lebens hat er hierfür vergeudet?
Immer mehr Drinks. Santa Monica Beach, wunderbar. Alles ist sehr friedlich, abgekoppelt von der Welt, er fühlt sich auf eine Weise um zehn Jahre zurückversetzt zur Sporttournee durch Israel, Strandleben, schlafen, ein weiches Hippieleben ohne Verantwortung und Angst und Forderungen. Man kann sich durch die Wochen spielen.
Ist das ein Erbe? Von wem? Der Reisegefährte fast ganz abwesend, auf jeden Fall schweigt er. Vielleicht schämt er sich? Oder das Gegenteil. Endlich kein Problem mit dem großspurigen Motorrad mit Seitenwagen.
Es sind gut zwei Jahre vergangen seit seiner Zeit in Berlin, und nur ein halbes Jahr ist es her, dass er unter dem Quartier der gekidnappten israelischen Sportler stand und sah, wie die Polizisten Sprengstoff unter der Decke anbrachten, aber hier in Los Angeles scheint er sich auf einem anderen Planeten zu befinden. Es ist nicht dasselbe Jahrhundert. Hier ist es erlaubt, von Verantwortung frei und unwissend zu sein. Er ist wieder ein homo ludens , ein spielender Mensch, und die kalifornische Sonne ist verzaubernd. Fast lobenswert, einfach mitzutreiben. Nach einer Weile versucht er nicht einmal, nicht schreiben zu können . Besser, das Leben einfach weitergleiten zu lassen, es ist eine Art schläfriger Rausch.
Die Universität ist eine berühmte Sport-Universität, die
Weitere Kostenlose Bücher