Ein anderes Leben
Rolle ist. Die des Untersuchers von der Arbeit an den Ausgelieferten oder die des Kindes, das im Schutz der Heckenrosen den Geräuschen der Komet-Mannschaft lauscht?
Vierzehn Jahre später, 1986, wird er sich aus Anlass der Fußball-Weltmeisterschaft in Mexiko aufhalten; er spielt noch immer die Rolle der sehr hohen, doch schweigend umherwandernden Kiefer , nur dass er während seines ziellosen Schlenderns anscheinend einige Dinge wahrnimmt, die kein anderer sieht.
Alles ist 1986 in Mexiko äußerst gründlich bewacht von Tausenden von Soldaten. Absolut keine Heiterkeit . Er soll von der Pressetribüne aus ein Spiel zwischen seinen zwei Lieblingsländern betrachten, Dänemark und Deutschland. Noch ein Stück vom Stadion entfernt beobachtet er, zwischen den Reihen schwerbewaffneter Schutztruppen, die jede Demonstration unterbinden sollen, wie ein deutsches Fernsehteam, bepackt mit Kameras und Leitungskabeln, zwischen den aufgestellten Panzertruppen hindurchgelassen wird. Ein langes Fernsehkabel schleift nach: Er tritt hilfsbereit hinzu und hebt es hoch und folgt auf diese Weise dem ZDF ins Innere der streng bewachten Burg, einfältig das Ende eines Kabels haltend.
Das Fernsehteam richtet sich hinter einem der beiden Tore ein, einen Meter hinter der Torauslinie. Er setzt sich ins Gras und betrachtet nachdenklich die erste Halbzeit und die Arbeit des Torwarts. Es ist der dänische. Ein ums andere Mal kommen die deutschen Büffel donnernd mit hohem Tempo daher; weil er sich an seine eigenen Einsätze als Torwart des Bureå IF erinnert und wie feige er war, wenn die Büffel auf ihn zukamen, ergreift ihn starkes Mitgefühl. Aus dieser Perspektive, also nicht aus der Sicht des hohen Tribünenplatzes , die auch die Perspektive des Fernsehzuschauers ist, verwandelt sich die Logik des Spiels. Die Tiefensicht wird reduziert, die freien Flächen werden verdeckt und verschwinden. Er bewundert die Spieler, die trotz ihrer horizontalen Perspektive Flächen zu überblicken vermögen, die wie mit der Sicht von der hohen Tribüne aus agieren können. Doch hier, von diesem Platz nur wenige Dezimeter über dem Spielfeld, verschwindet jeder Gedanke an ›Rasenschach‹, und er versucht später, um seine Beobachtung zu testen, eine Schachpartie mit dem Brett in Augenhöhe zu spielen, verliert schnell und findet seine Beobachtung bestätigt.
In der Pause steht er ruhig auf und spaziert am Spielfeldrand entlang. Es ist schön, die Beine zu strecken. Innerhalb dieser mexikanischen Berliner Mauer ist die Bewachung gleich null. Auf Höhe der Mittellinie kommt ihm der Gedanke an eine Toilette, er geht durch den Eingang, in dem die Spieler verschwunden sind. Eine Toilette wird er schon finden.
In den Gängen ist es fast menschenleer.
Er geht dreißig Meter nach links, keine Wachen, eine Tür steht offen, er tritt ein und bleibt hinter der Tür stehen. Er befindet sich im Umkleideraum der deutschen Mannschaft, alle Spieler sitzen auf ihren Bänken, und es ist vollkommen still. In der Mitte steht Franz Beckenbauer, der Trainer, im schicken Anzug und in lockerer Haltung; der wendet sich ihm zu, sagt nichts, aber man kann seine Miene als fragend auffassen, eventuell höflich kritisch dem Eindringling gegenüber. Er sagt kurz, und ohne sich aus der Fassung bringen zu lassen, Entschuldigung! und geht durch den leeren Gang zurück und fragt sich durch zur Pressetribüne, von wo er die zweite Halbzeit sieht.
Welche Erkenntnisse bringt all dies dem Untersucher? Fast keine, außer dass er die Erinnerung an seine risikoreiche und wenig erfolgreiche Torwartarbeit beim Bureå IF zurückgewinnt .
Durch unzählige Fernsehkameras betrachtet die Welt einen Balkon im Olympischen Dorf, auf dem sich manchmal ein maskierter Terrorist zeigt; er selbst aber bewegt sich durch die Kellergänge in der angewiesenen Richtung zur Garage der kanadischen Mannschaft, die neben der israelischen liegt.
Er fragt einmal einen Polizisten Können Sie mir den Weg zur Toilette der kanadischen Mannschaft zeigen , erhält jedoch nur ein ratloses und bedauerndes Kopfschütteln als Antwort. Offenbar löst er bei dem Beamten nur ein vages Schuldbewusstsein aus, sich nicht so höflich und hilfreich verhalten zu haben, wie das Prinzip von Heiterkeit es für diese Olympischen Spiele vorschreibt.
Er erkennt, dass die Tauben noch nicht umgedacht haben, obwohl die Habichte mit mächtigen Flügelschlägen eingeflogen sind und jetzt die Gefangenen in ihren Klauen halten.
Die Unterwelt
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