Ein anderes Leben
fragt sich, was sie jetzt denkt.
Das Pressezentrum der Olympischen Spiele in München, die Grube genannt, wird jetzt zum Mittelpunkt der Welt.
Für die schreibenden Journalisten war es das eigentliche Herzstück: Die Grube war eine gewaltige, textilverkleidete Vertiefung in der Mitte des Zentrums, angefüllt mit Ledersesseln und niedrigen Tischen und hunderten von Fernseh-Monitoren, die zu jedem Zeitpunkt die ganze Vielfalt von sämtlichen Wettkampfstätten wiedergaben. Man konnte sich dort verstecken, nie seinen Fuß in eine der verschiedenen Wettkampfarenen setzen, aber an diesem frühen Morgen erschien die Grube plötzlich heruntergekommen, fast schmuddelig. Normalerweise war sie nicht nur von denen bevölkert, die schrieben, sondern auch von diesen wunderschönen, blau gekleideten Hostessen, deren Aufgabe es war zu assistieren, als Guides zur Verfügung zu stehen, zu lächeln und Fragen zu beantworten; es hieß, sie seien fünftausend. Er hatte bemerkt, dass sie beim Beginn der Spiele in diesem Pressezentrum nicht nur als schön und freundlich erschienen, sondern auch als fast klinisch unnahbar, in Plastik gehüllt, beinahe Göttinnen gleich.
Später wirkten auch sie irgendwie verbraucht.
Die, mit denen er sich am Eröffnungstag unterhalten hatte, waren zwei Wochen später verändert: etwas abgeschlafft. Die Glockenblumen, wie sie genannt wurden, sahen gegen Ende alle sehr müde aus, sie flehten förmlich um Kontakte und waren nicht mehr stolz, eher ermattet; anfangs ihrer unerhörten Schönheit bewusst, bekamen sie im Verlauf der Tage und Wochen die Olympischen Spiele satt, und das ständige Biertrinken, empfanden angesichts der Grube und der Fernsehmonitore Überdruss, setzten fast unmerklich Gewicht an und begannen beinah rundlich zu wirken und suchten Gespräche über alles mögliche, nur nicht über Sport, um am Ende, vor Überdruss verzweifelt rauchend, zu hoffen, dass die Spiele bald vorbei wären, so dass sie befreit wurden und ihr Mediengefängnis verlassen konnten, um ihre natürlichen Rollen in Freiheit einzunehmen.
Was diese Rollen auch sein mochten. Studienrätin in Enköping. Oder schwedische Königin.
Es ist etwas mit dem Verwelken der Glockenblumen , das ihn auf unklare Art und Weise verfolgt. Denkt er an Oscar Wildes Bildnis des Dorian Gray , den Roman über das alternde Porträt, während das lebende menschliche Vorbild ewig jung bleibt? Sieht er sein eigenes Porträt?
Und dann explodieren die Olympischen Spiele in München 1972.
Die Wochen vor der Explosion sind wunderbar. Er soll ein Reportagebuch über Olympische Spiele schreiben, erkennt jedoch, dass er gewisse Schwächen hat.
Er ist ein scheuer Beobachter. Er wandert groß und schweigend umher und sieht . Das ist seine Arbeitsmethode.
Wandernde Kiefer.
In den Stunden nach der Nachricht von der Geiselnahme besucht er einige befreundete Aktive in der schwedischen Mannschaft im Olympischen Dorf. Es ist noch immer möglich, fast überall hineinzukommen. Noch keine Absperrungen um das Olympische Dorf und die Geiseln. Wenn das Dorf überhaupt abgesperrt werden kann. Das Olympische Dorf ist ein Ameisenhaufen mit unzähligen Gängen und Tunneln, unbewachten. Diese Olympischen Spiele sollten ja von Heiterkeit geprägt sein, nicht von deutscher Disziplin und militärischer Bewachung. Sie sollten das Deutsche von der Geschichte abwaschen.
Die zwölf Jahre unter Hitler sollten weggewaschen werden.
Er hat das erkannt, und es hat ihm gefallen, bis zu diesem Augenblick, da er wie alle anderen Liebhaber des homo ludens von den Konsequenzen in der Gestalt des Todes betroffen ist. Alle Sicherheitsbestimmungen waren dieser Ideologie der Heiterkeit angepasst gewesen, es war möglich, sich frei zu bewegen, fast ungehindert, was die Terroristen auch bemerkt hatten und weshalb sie sich mit Leichtigkeit Zugang zum Mannschaftsquartier der Israelis verschaffen konnten.
Wo ist dann das Zentrum in der Geschichte?
Er bekommt einen Tip, wie das israelische Mannschaftsquartier erreicht werden kann, durch einen Kellergang. Er steigt deshalb einem akkreditierten Dante gleich hinab in die Unterwelt, wo Gänge ihn zum Keller des israelischen Quartiers führen sollen, der gleichzeitig der kanadischen Mannschaft als Garage dient. Schwebt ihm vor, sie zu befreien? Nein, er will nur dorthin spazieren und die Richtigkeit seiner Arbeitsmethode, betrachtende Unschuld , bestätigt bekommen.
Wenn er über Sport schreibt, weiß er nicht recht, was eigentlich seine
Weitere Kostenlose Bücher