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Ein anderes Leben

Ein anderes Leben

Titel: Ein anderes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Enquist
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Er lauscht der Dankesrede mit ein wenig gemischten Gefühlen. Er kennt den Redner. Dieser hatte ihm einmal, bei einem Kameradentreffen der Ausgelieferten in Riga einige Jahre nach Lettlands Befreiung, wo der Untersucher ebenfalls eingeladen war, eine lustige Geschichte erzählt.
    Es waren damals bei jenem Treffen in Riga siebzehn Legionäre anwesend gewesen, und er selbst, sie hatten sich ruhig und aufrichtig unterhalten über das, was gewesen war. Im Vergleich zu ihnen war er ja jung, aber sie hatten alle eine Wärme und Kameradschaft gespürt, als hätten sie alle Anteil an etwas, das Geschichte war, aber dennoch Leben, das aller Leben verändert hatte, auch seins, und sie hatten bis tief in die Nacht zusammengesessen, und es war schön gewesen.
    Die Geschichte, die der Mann, der jetzt im Außenministerium die Dankesrede hielt, erzählt hatte, handelte von seinem Dienst im deutschen Polizeihauptquartier in Riga während der deutschen Besetzung. Er hatte eine Schreibtischtätigkeit gehabt und sollte aus Namenlisten diejenigen heraussuchen, die Kommunisten oder Juden waren und interniert werden sollten, oder was sonst mit ihnen passieren sollte . Auf jeden Fall hatte sein deutscher Chef zu ihm gesagt Du sitzt hier nur mit deinen Papieren. Aber du musst auch lernen, mit einem Gewehr umzugehen, wir haben Krieg. Und er hatte gelacht und gesagt nein, ich kann nicht mit einem Gewehr umgehen, ich schieße unsagbar schlecht. Aber sein deutscher Chef hatte gesagt Du kannst es lernen! Aber dann musst du lernen, auf bewegliche Ziele zu schießen. Nicht nur auf Zielscheiben!
    Ich kann ein paar Juden besorgen , hatte er gesagt, und dann kannst du üben, auf laufende Juden zu schießen.
    Und der Redner, der also jetzt der schwedischen Außenministerin für das Essen und für die Entschuldigung dankte, hatte protestiert und gesagt, nein, das kann ich nicht, ich bin ganz miserabel am Gewehr, und so hatte es kein Schießen auf laufende Juden gegeben, aber er hatte gelacht, als er die Geschichte erzählte, und gesagt, so waren die Deutschen! Und es war gewissermaßen eine lustige Geschichte.
    Was sollte man dazu noch sagen.
    Sie sitzen um kleine runde Tische im schwedischen Außenministerium.
    Er hört der Außenministerin zu und der Dankesrede, und den Kameraden, die er jetzt besser kennt und jetzt lieber mag als am Anfang der Expedition. Einfacher als so, den Scherz mit den laufenden Juden eingeschlossen, war es nicht.
    Er weiß, dass die Expedition ihn verändert hat. Er ist nicht mehr derselbe.
    Dieses Essen ist das Bild der Expedition . Es ist irgendwie, als befinde er sich mitten in der europäischen Geschichte, und sie ist, wie sie ist, die Deutlichkeit der Geschichte verdeckt von menschlichen Gesichtern. Keine Erregung, keine Freude, nur eine Art friedlicher Ruhe. Schuld oder Unschuld, die Gesichter der Menschen sind am Ende nur menschlich, wie seins vielleicht. Das ist seine Empfindung.
    Die europäische Geschichte ist, wie sie ist.

Das Buch erscheint, es wird also nicht hinausgeschmuggelt .
    Ein halbes Jahr später erhält er eine Reihe von Preisen dafür, auch den größten skandinavischen Literaturpreis, den Preis des Nordischen Rats. Die Preisverleihung findet im Stadshus von Stockholm statt, in der Blauen Halle, die voll besetzt ist, weil der Nordische Rat zusammentritt. Fast tausend Personen sitzen da, und er hält eine Rede und dankt für den Preis.
    Hinterher Festessen im Goldenen Saal.
    Er hat als Ehrengast einen Platz an dem Tisch, an dem sämtliche nordischen Ministerpräsidenten sitzen. Sie reden abwartend und vorsichtig mit ihm, als sei er jetzt Experte für politische Krisen und die sie steuernden Mechanismen geworden, und als müsse man ihm deshalb mit Respekt oder fragend begegnen. Er findet, hier wie im späteren Leben, dass er mit Politikern selten über etwas Wichtiges sprechen kann; es handelt sich um eine gegenseitige Scheu, was wichtig ist, ist gewissermaßen dem Buch vorbehalten .
    Er kann nur durch ein Buch sprechen, sie können nur dadurch hören. Von Angesicht zu Angesicht wissen sie sich nichts zu sagen.
    Aber warum diese abwartende, fragende Haltung, ja beinahe Angst ihrerseits? Träumen sie alle davon, einmal Schriftsteller zu werden? Oder sind sie einfach nur misstrauisch. Er entscheidet sich dafür, dass sie skeptische Neugier ausdrücken, und zugleich Respekt. Er ist kein Experte für die Mechanismen politischer Krisen, aber als solchen betrachten sie ihn sicher. Er korrigiert sie nicht,

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