Ein anderes Leben
rekrutiert worden waren; sie waren Letten oder Franzosen oder Schweden oder Norweger. Knut Hamsuns Sohn Arild tat zum Beispiel Dienst in der norwegischen Waffen-SS. Und diese mussten, wenn nicht als Patrioten und Freiheitskämpfer, so in jedem Fall als Zwangsrekrutierte betrachtet werden. Weit später sollten in einer deutschen Debatte um einen Siebzehnjährigen und zukünftigen Schriftsteller und Nobelpreisträger aus Danzig, der nur einige Monate in der Waffen-SS Dienst getan hatte, unversöhnlichere Töne angeschlagen werden.
Die Wahrheit war doch weitaus komplizierter.
Die Unschuldigen und Jungen – die jüngsten von ihnen sollten mit der Zeit zu lebenslangen Freunden werden – bildeten sicher eine Mehrheit unter den Ausgelieferten. Der Eintritt in die SS bedeutete für sie, das kommende freie Lettland zu verteidigen. Aber vor und während der Zeit der lettischen Legion gab es in den baltischen Staaten auch eigene Polizeiverbände. Einheiten, deren entsetzliche Geschichte wohlbekannt ist, geprägt von Säuberungsaktionen, systematischen Morden an Juden und Zivilisten, Partisanenjagden und reinen Kriegsverbrechen. Was das Bild der lettischen Waffen-SS-Legion unscharf macht, ist der Umstand, dass in den letzten Kriegsjahren, als die Auflösung immer näher kam und das Ende unausweichlich erschien, einzelne Individuen aus den Polizeiverbänden die Legion einfach infiltrierten.
In vielen Fällen offenbar aus dem Grund, ihre Vergangenheit zu verbergen.
So umfasste die Gruppe derer, die nach Schweden gelangten, zahlreiche ganz unterschiedliche menschliche Schicksale, über die man unmöglich zu einem generellen Urteil kommen konnte. Ungefähr vierzig der Ausgelieferten wurden auch zu langen Strafen im Gulag verurteilt. Aber man wurde nicht in erster Linie für die Zeit in der Legion verurteilt.
Mit den Jahren sollte er in bezug auf die anfänglich so kontroverse Frage, was nach der Auslieferung mit ihnen geschah , recht bekommen. Das Bild war kompliziert, aber das Bild, das er gezeichnet hatte, erwies sich als richtig. Im nachhinein wusste er, dass er recht bekommen hatte. Und er hätte sein Buch nicht anders schreiben wollen.
Es sollte ja eine andere Zeit kommen, nach dem Fall der Mauer, als Archive geöffnet und die baltischen Staaten unabhängig wurden.
Das machte die Frage nach der Geschichte der Kriegsjahre und der Legionäre nicht weniger kontrovers. Viel später, in einem Nachwort zu einer Neuausgabe des Romans, die im freien Lettland erschien, schrieb er, dass die Geschichte der Legion, ihrer Angehörigen und der Geschehnisse eine Aufgabe für lettische Historiker sei , in einem freien Lettland, mit freiem Zugang zu allen Archiven – keine Aufgabe für einen schwedischen Schriftsteller.
Er wartet viele Jahre, aber nichts geschieht. Er ist nicht verwundert. Warum, selbst in einem freien Land, in dieser jetzt auf eine andere Weise unangenehmen Geschichte wühlen?
Der Zweite Weltkrieg ist noch immer vermintes Gelände. Tiefer in der Geschichte zu graben ist, bei genauerem Nachdenken, unpassend. Die Forschungsaufgabe immer noch explosiv. Weit später beobachtet er, ohne dass es ihn verwundert, wie dieses Trauma regelmäßig gewaltige politische Konflikte verursacht.
Zum Beispiel die baltische Beteiligung am Holocaust. Die Besatzungsmacht, die sich plötzlich in eine russische Minorität verwandelt. Passkonflikte. Konflikte um die Staatsangehörigkeit. Oder um eine versetzte estnische Statue. Oder um Gedenkmärsche der jetzt gealterten Legionäre, die noch leben.
Er sollte ja die Kontakte zu den Ausgelieferten aufrechterhalten.
Einmal, Mitte der neunziger Jahre, lädt die jetzt bürgerliche Regierung die Ausgelieferten nach Schweden ein. Es sind ungefähr vierzig, die noch leben und die Reise noch machen können. Sie besuchen die alten Lager wie Ränneslätt und werden zu einem großen Essen ins Außenministerium eingeladen. Auch er wird von der freundlichen Außenministerin Margaretha af Ugglas eingeladen. Sie hält eine Rede und bittet die Ausgelieferten offiziell im Namen der schwedischen Regierung um Entschuldigung. Es ist ein schönes Essen, und er kennt jetzt die meisten, die Stimmung ist friedlich und gar nicht pathetisch oder aggressiv, aber alles ist ein wenig unwirklich.
Gegen Ende erhebt sich einer der ehemaligen Legionäre und hält eine schöne und einfache Dankesrede.
Der Untersucher ist jetzt viel älter, es sind dreißig Jahre vergangen, seit er zu seiner Expedition aufgebrochen ist.
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