Ein anderes Leben
Unordnung, die Mauer hat keine Löcher, und über der verfallenen Stadt wächst zwar der Dschungel, aber er sieht keine Schönheit mehr darin. Die Genossen am Grenzposten sind müde, und sie sind seiner müde. Sie sind nicht befugt, als Reisebüro zu dienen. Er sitzt noch eine halbe Stunde bei ihnen, aber jetzt schütteln sie alle den Kopf. Sie meinen, dass der Sturm irgendwann nachlassen muss. Es ist unausweichlich – wie der Sieg des Kommunismus; vielleicht drücken sie sich nicht genauso aus, aber es fällt ihm schwer, sich auf das, was sie sagen, zu konzentrieren.
Er fährt zurück in die Meinekestraße 6.
Um 4.45 Uhr in der Frühe hupt ein Taxi, und darin sitzen ein nun aus Verzweiflung und Erleichterung weinendes Kindermädchen und eine beständig freudestrahlende Zweijährige, die trotz ihrer jungen Jahre schon die ganze Mitte und das Zentrum Europas besucht hat, alle fünf Städte, Prag, Budapest, Warschau, Ostberlin und Westberlin.
So öffnet sich das Tor nach Berlin.
Er hat es schon vor langer Zeit beschlossen. Er will einen Roman über Sport und Politik schreiben.
Die neugewonnene Autorität, die ihm jetzt nach Den Ausgelieferten zugeschrieben wird, Hass und Anerkennung abwechselnd, verwirrt ihn. Was beherrscht er eigentlich ? Er hat über Politik und Ethik und den Zweiten Weltkrieg geschrieben, aber was hat er selbst im Krieg getan! Der Feldsoldat und Panzersperren, und ein einziges Mal eine Verdunkelungspappe vor den Fenstern in Hjoggböle. Während Millionen getötet wurden oder auf der Flucht waren. Als das Norran die Nachricht bringt, dass Hitler mit Panzern die Ardennenoffensive eingeleitet hat, gerät er in Erregung, er denkt ausschließlich militärstrategisch, lässt keine moralischen Bedenken das Erlebnis der Kriegsbewegungen stören und wird in seiner Begeisterung nur durch die Tränen der Mutter gebremst.
Die ihm zugesprochene Autorität betrifft nicht das, was er wirklich kann . Er wird jetzt als weißer Elefant betrachtet, ständig im Fernsehen vorgezeigt, führt Diskussionsrunden, nimmt selbst als Experte für Politik und Ethik an Diskussionen teil, aber diese Achtung schlägt merkwürdigerweise einen weiten Bogen um das einzige Gebiet, auf dem er sich zu hundert Prozent auszukennen glaubt.
Das ist der Sport. Was er über Sport liest, kommt ihm amateurhaft vor. Die Zweifler verstehen nichts, die Gläubigen können nicht schreiben. Aber das Problem ist: Sieht er bislang den Sport nur als etwas Gefühlsstarkes und Unschuldsvolles, und als Flucht?
Das Unschuldsvolle versteht er. Wenn er als Erwachsener nach Västerbotten hinauffährt, mietet er oft ein Auto und fährt in hellen Sommernächten allein durchs Land. In allen Dörfern sucht er nach den Resten der Wiesen, auf denen sie Fußball gespielt haben, nach den Sportplätzen, die noch da sind. Sehr helle Sommernächte. Kein Mensch. Nur die schuldlose Geographie der Sportplätze.
Dies glaubt er gestalten zu können. Es ist das andere, die Einfassung, was er jetzt zurechtzimmern muss.
Er muss einen Rahmen bauen, wie ein Bildermacher.
Er gleitet widerstandslos in die Unterwelt des Berliner Sports.
Er sieht alles, was es an Boxkämpfen zu sehen gibt. Er findet das ostdeutsche Amateurboxen technisch glänzend, aber moralisch steif , allzu anständig im Vergleich mit den Profigalas in Westberlin. Er hängt noch der Vorstellung an, dass der hohe Grad an Roheit im Berufsboxen das einzig anständige Bild der kapitalistischen Gesellschaft abgibt.
Später ändert er seine Meinung und findet, dass Roheit Roheit an sich ist.
Sechstagerennen sind ein Erlebnis, weil sie sich im Sportpalast abspielen. Die Geschichte sickert dort aus den Wänden, er erinnert sich an die Filmaufnahmen, Goebbels’ letzte schreckliche Massenversammlungen, als die Katastrophe und der Zusammenbruch schon feststehen, aber alle dennoch ihre Loyalität herausschreien.
Es steckt in den Wänden.
Die Bahn ist aus Holz, und er bewundert die gediegene Arbeit der Parkettleger. Er sitzt in der vorderen Reihe des E-Blocks, die Fahrer steigen und sinken an ihm vorbei, in rhythmischen Wellen, reißen ihre drei, vier Runden ab, schließen zum ablösenden Fahrer auf. Im Innenraum sitzt Westberlins Arbeiterklasse und säuft. Der Sport schäumt von Bier.
Er vereinigt sich mit ihnen.
Über die Balustrade der Bahnumrandung hängen die Prostituierten, reißen ihre Blusen auf und lassen den vorbeisausenden Fahrern die Brüste entgegenbaumeln, wie zur Anfeuerung oder zum Hohn. Es
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