Ein anderes Leben
gibt eine Einsamkeit in der Welt des Radrennfahrers, die er kennt, er erinnert sich an das Etappenrennen zum Tisch des Herrn in seiner Jugend, aber der Bierkonsum unter den Zuschauern ist jetzt gewaltig, und er weiß nicht richtig, wo er sich befindet. In einem bösen Traum vielleicht, den er betäubt.
Unter den Biersorten entdeckt er eine Marke mit Namen Kulminator, sehr stark, dickflüssig, wie verdünnter Sirup, schnell betäubend.
Sinkt er? Noch nicht.
Und der Fußball?
In der Nacht, als sich das Tor Berlins öffnete und seine zweijährige Tochter Jenny ihre vierundzwanzig Stunden dauernde Bildungsreise durch Zentraleuropa machte, war der Schnee gekommen, und er blieb lange. Schneefußball war etwas Neues. Das prägte die Spiele im Olympiastadion.
Was war dagegen die Komet-Mannschaft? Er selbst hatte vor seiner Leichtathletikkarriere Fußball in der vierten Liga gespielt. Er stand im Tor. Er bezeichnete sich selbst als fantastisch auf der Linie, reaktionsschnell und spektakulär, aber schon zwei Meter vor dem Tor feige wie eine Ratte. Konnte nie im Gewühl klären oder eine Flanke herunterpflücken. Zauderte, ließ zwischen den glänzenden Paraden ständig unnötige Tore zu. Er begann zu glauben, dass es an der Psyche lag, dass es auf eine innere Schwäche, einen Charakterfehler hindeutete; am Ende ist er nicht allein mit dieser Einschätzung, sie greift in der Mannschaft und bei den Trainern um sich, und er wechselt hinüber zur Einsamkeit des Hochspringers vor der Latte.
Aber wie gern wäre er ein anderer gewesen!
Hertha BSC war jedoch etwas anderes als die Komet-Mannschaft Hjoggböle oder der Bureå IF.
Fußball in Westberlin war wirklich etwas völlig anderes.
Es war kalt in jenem Winter in Westberlin, die abnorme Kälte gab diesen Samstagnachmittagen in der Bundesliga eine besondere und fast unwirkliche Atmosphäre. Die schwere und brutale Atmung , die er erlebte, als er zum ersten Mal das Olympiastadion betrat, sollte in diesem Jahr in Berlin alles prägen. Sie presste sich wie ein Brenneisen in seine Unschuld. Er war aus den Katakomben der U-Bahn heraufgekommen, aus der unterirdischen Tiefe hinauf ans Licht, wie ein Teil einer schwarz wimmelnden Masse; er konnte sehen, wie die Köpfe, Atemzüge und Rücken sich zu einem großen, dampfenden Tier formten, das langsam und doch erregt zielstrebig durch die Sperren und Tore drängte und sich auf den noch schneebedeckten, nur notdürftig gefegten Blöcken verteilte. Es stank nach Currywurst, und die Kälte, die grau einfallende Dämmerung und der verschlammte Schneematsch gaben den Spielen eine furchterregende Atmosphäre. Hitlers altes Olympiastadion öffnete sich, grau und brutal, im beißenden, eiskalten Wind.
Dies war die Arena, die von innen immer überwältigender wirkte als von außen, und diesen Winterspielen eignete außerdem in ihrer windgepeinigten, hitzigen Eiseskälte eine merkwürdige Schönheit. Bei diesem ersten Mal konnte er kaum die Umrisse der Tribüne auf der Gegenseite erkennen, er sah den schräg treibenden Schnee, das schmutzig grüne Rechteck des notdürftig geräumten Platzes, die eisblauen Speere der Scheinwerfer durch das am Ende umfassende Dunkel, und dann die Stimmung, die nicht nur den für die Bundesliga üblichen gehässigen und gekränkten Grundton besaß, sondern auch eine Beimischung aus Kälte, Überdruss, Wut, Feuchtigkeit und dem Druck der grauen Betonwände hatte. Aufwärts geklettert an den grauen Wänden des Riesenkessels sah die Volksmasse aus wie ein sich bedrohlich breit machendes, schmutzgraues, sich festkrallendes Tier, das vor Zorn oder Enttäuschung brüllte, das überempfindlich und brutal reagierte und keinerlei Barmherzigkeit kannte, angefangen bei der Vorstellung der Spieler der Gastmannschaft (Na und? Na und? Na und?) bis zu den höhnisch skandierten Rufen bei jedem Fehler auf seiten der Gäste, Üben! Üben! Üben!
Hierher kamen sie mit ihrem Gefühlsleben .
Hertha BSC’s Heimpublikum, ein nicht unwesentlicher Teil von Westberlins Arbeiterklasse, schien sich unter dem Druck der Kälte, der Feuchtigkeit und des Schneetreibens aus den jovialen, biertrinkenden, humorvollen und gefühlsstarken Zuschauern der Sommerabende in etwas anderes zu verwandeln: brutaler und zugleich ergreifender. Ihre Schreie galten dem Spiel und den Gegnern und vielleicht auch ihnen selbst. Schweinehund! schrien sie, hart und empört, und sprangen von den Schichten von Wolldecken und Zeitungen auf, die ihre Kleidung vor der
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