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Ein anderes Leben

Ein anderes Leben

Titel: Ein anderes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Enquist
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Feuchtigkeit und Kälte der Sitze schützen sollten, Schweinehund! Schweinehund! Er sah sie in der Halbzeit aus allen Löchern der Burg hinausdrängen, um die Statuen von 1936 aufzusuchen, die das Olympiastadion umgaben und dort standen, um zeitlose Kunst und Erhabenheit für Hitlers Olympiade zu schaffen; sah, wie die Burg sich leerte und sie die Kunst als Pissoir aufsuchen mussten, wie diese Hunderte und aber Hunderte von Sportfreunden wie festgenagelt in der Gemeinschaft der Statuen standen und pissten.
    Wie passten die grölenden und pissenden Sportliebhaber in Hitlers Stadion mit der schuldlosen Geographie seiner eigenen Sportplätze zusammen, die ihn in hellen Sommernächten die Wiesen im Küstenland von Västerbotten besuchen ließ, die ihn einst aus der Gefangenschaft des Glaubens und aus den barmherzigen Fangarmen des Erlösers Jesus Christus befreit hatte?

Zum ersten Mal in seinem Leben befindet er sich im Exil. Das bedeutet, bei näherer Analyse, außerhalb der Grenzen Schwedens .
    Dies ist sein erstes Exiljahr. Mit der Zeit wird er zwanzig Jahre im Exil verbringen, in Berlin, Los Angeles, Paris und Kopenhagen.
    Gleichzeitig sieht er ein, dass der Begriff Exil in seinem Fall Nonsens ist. Er hat seine Familie bei sich, er ist frei, er hat dieses Exil frei gewählt, er kann zurückgehen, wann er will. Er befindet sich in einer wirtschaftlich privilegierten Situation, bezieht ein Monatsgehalt vom Berliner Künstlerprogramm, hat eine große und kostenfreie Wohnung siebzig Meter vom Kudamm entfernt; sie gehört einem in Frankfurt lebenden Grafen, mit einem, den rosa Dekorationen nach zu urteilen, interessanten sexuellen Profil. Eine vier Meter lange Marmorplatte ist sein Schreibtisch. Es ist eine Stipendiatenwohnung, vor ihm hat Peter Handke darin gewohnt. Sie begegnen sich kurz bei der Übergabe, Handke sieht ihn verblüfft an, sagt Ich habe Die Ausgelieferten gelesen, Sie haben das geschrieben? Er bekräftigt es, Handke sagt Ich dachte, Sie wären älter! und was soll man dazu sagen? Der Österreicher Handke ist auch im Exil, einem ebenso sanft körperangepassten Exil, wie es sein eigenes ist. Ich dachte, Sie wären älter! Kann man darin eine Spur von Kritik ahnen?
    Sie sagen nicht viel mehr zueinander.
    Damit ist er ins System eingewechselt.
    Formell heißt es Berliner Künstlerprogramm und wurde 1963 zu einem Zeitpunkt geschaffen, da Westberlin als eine sterbende Stadt bezeichnet wurde, von Rentnern und Hunden bevölkert. Die Liste der Stipendiaten wiegt schwer, und er muss einmal tief durchatmen: Auden, Bachmann, Butor, Gombrowicz, Handke, Jandl, Sanguinetti, Tabori. Es ist auch ein Ort zum Luftholen für osteuropäische Schriftsteller, denen es irgendwie gelungen ist, eine Reisegenehmigung zu erhalten oder zu fliehen.
    Für sie ist dies das richtige Exil.
    Das System ist fantastisch und umfängt ihn mit Fürsorge; er befindet sich im Exil und gleichzeitig auch nicht. An einigen seiner neuen Freunde kann er jedoch beobachten, was die Bedingungen des Exils sind. Er freundet sich mit Zbigniew Herbert an, dem polnischen Lyriker, der seltsamerweise nie den Nobelpreis bekam; das Exil zermürbt ihn und seine Familie, und er trinkt zuviel. Das Exil hält Alkoholismus bereit, stellt er fest, wie ein Geschenk, zu dem man beinahe unmöglich nein sagen kann. Das Exil ist eine Wüste , wenn es keine Alternative gibt. Das Exil besteht aus kurzen Augenblicken von Heldentum, Dramatik und Bewunderung, und dazwischen liegen eiskalte Morgen mit Abstinenz und Schweigen und An-die-Decke-Starren und Auf-nichts-Warten.
    Er mag Zbigniew: In dessen stiller Verzweiflung zeichnen sich der Kalte Krieg und die Mauer viel deutlicher ab als am Checkpoint Charlie.
    Er erkennt jedoch, dass alle Eingeladenen, die mit einem Jahr ihres Lebens der sterbenden Stadt Leben einhauchen sollen, Kinder des Kalten Krieges sind. Ohne die Isolierung Westberlins gäbe es nicht diese enormen Summen, um die Isolierung aufzubrechen, oder konkreter: Die großartige Wohnung in der Meinekestraße 6, das monatliche Stipendium, die ununterbrochenen Einladungen zu Veranstaltungen, das glückliche Leben in einer Stadt, der es nicht erlaubt werden darf, einen kulturellen Tod zu sterben, all dies ist möglich dank der Mauer.
    Was ist seine eigene Aufgabe?
    Zu arbeiten. Nachdenklich liest er Witold Gombrowicz’ 1965 erschienenes Tagebuch aus Berlin: Es ist das gleiche Stipendium, die gleiche sterbende Stadt, eine andere Wohnung, aber es ist etwas geschehen.

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