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Ein anderes Leben

Ein anderes Leben

Titel: Ein anderes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Enquist
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Berlin war 1965, also fünf Jahre zuvor, eine friedliche Enklave, beinahe außerhalb der Welt. Auch Gombrowicz fühlt sich ländlich – wie er selbst, wenn er dieses Tor nach Europa durchschreitet –, aber es ist eher eine polnisch-argentinische Ländlichkeit, er versucht vergeblich, Deutsch zu verstehen und strengt sich an, Kontakte mit deutschen Intellektuellen wie Grass und Uwe Johnson zu knüpfen.
    Man spricht schüchtern miteinander. Worüber? Über Pfeifen.
    Nein, in dieser Stadt gibt es nichts Sterbendes mehr.
    Wohl aber Tod – und Konflikte.
    Auf eine für ihn selbst verblüffende Weise hatte es sich ergeben, dass er sich an der Seite von ’68 bewegte, von Studentenrevolte und neuer Linken. Er weiß nicht recht, wie es dazu gekommen ist; er hat gearbeitet und sich in seine Arbeit vertieft, oder er war in der Sowjetunion oder in Konflikten oder sonst irgendwo . Die schwedische Studentenhausbesetzung hatte er vollständig passiv betrachtet, eine halbe Stunde lang. Dann war sein Zug nach Uppsala gegangen. Der Aufruhr fand augenscheinlich anderswo statt, in einer Straße namens Holländargatan, er stand fünfzig Meter vom Redner entfernt und sah zu seiner Verwunderung, dass es Olov Palme war.
    Physisch kam er der schwedischen Jugendrevolte zu keinem Zeitpunkt näher als da.
    Hier wird er direkt in den Westberliner Jugendaufruhr, mitsamt der Nachgeburt namens Rote-Armee-Fraktion oder die Baader-Meinhof-Bande, hineinkatapultiert.
    Nein: tot ist diese Stadt jetzt im Jahr 1970 nicht.
    Er meint im politischen Zentrum der Welt zu leben. Aber groteskerweise hat er beschlossen, über Sport zu schreiben, und das steht in dieser Zeit in Westberlin nicht gerade an der Spitze der Tagesordnung.
    Er schleppt einen Sack voll Schamgefühl dem Sport gegenüber mit sich herum. Er ist davon überzeugt, dass es nicht als ganz stubenrein angesehen wird, über Sport zu schreiben. Also rein intellektuell. Falls doch, hatte man kritisch zu sein, das war wichtig, gern verächtlich. Scharfblickend wütend ist auch eine Alternative. Ivar Lo-Johansson hatte in den dreißiger Jahren etwas vage Normbildendes geschrieben, ›Ich zweifle am Sport‹, eine grässliche Geschichte über das Entsetzliche am Sport, in der der Sportidiot am Ende stirbt, gerechterweise, und zwar an entzündeten Blasen an den Füßen, die er sich bei unnötigem Lauftraining zugezogen hat. Eins der schlimmsten Machwerke, die in diesem Genre geschrieben worden sind. Er hasste das Buch mit der Inbrunst eines Mannes, der zuhört, wie seine Geliebte verleumdet wird.
    Aber der Sport hatte für ihn bedeutet, die Einsamkeit hinter sich zurückzulassen, warum sollte er nicht darüber schreiben?
    Warum nicht in Berlin.
    In der Woche nach seiner Ankunft beginnt er, die Antiquariate durchzupflügen, auf der Jagd nach der Geschichte.
    Die Flammen der Jugendrevolte prasseln, doch er unternimmt eine archäologische Ausgrabung der Geschichte des Sports, um zu verstehen, was um ihn her geschieht. Die Antiquariate sind Goldgruben, besonders für Literatur über die Arbeitersportbewegung in den zwanziger Jahren. Manchmal tauchen überraschende Vorgänger auf. Er entdeckt, dass ein Sportnarr namens Bertolt Brecht den Film Kuhle Wampe über die Arbeitersportbewegung gemacht hat, und es gelingt ihm, ihn zu sehen.
    Jemand ist vor ihm da gewesen .
    Warum nicht Berlin? Vielleicht konnte er dort den Punkt finden, von dem aus die Geschichte erzählt werden sollte, die der schwedischste seiner Romane werden sollte. Um ihn herum explodierte etwas, was einer Revolution ähnelte; von einer Mauer eingeschlossen lebte Westberlin wirklich, war keineswegs eine von Damen mit Hund bevölkerte, sterbende Stadt, nein, eher das pulsierende Herz eines Aufruhrs gegen Hierarchien. Von dem – auch – am Ende ein Weg zu Terror und RAF führen sollte. Dieser Präriebrand war, wie er selbst, in einer Stadt hinter Mauern eingeschlossen. Aber die Mauer bewirkte eigentümliche Effekte, auch für ihn; die Energie in dieser Stadt war zwar eingesperrt, aber sie schien auch von der Ringmauer zurückzuprallen, zurück ins Innere, und machte Westberlin zu einem Resonanzkasten, der am Ende von einer Kraft zu dröhnen schien, die sich selbst vervielfachte. Im Unterschied zu den Westdeutschen war er jedoch privilegiert: hatte also einen schwedischen Pass, konnte sich auf der anderen Seite dieser Mauer bewegen. Jenseits der Mauer existierte ein rätselhaftes, sie umschließendes Reich, das unterschiedliche Namen hatte, je

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