Ein anderes Leben
das Buch geführt hatte.
Alles ging gut. Das schwedische Team, geleitet vom ehemaligen Untersucher, bewegte sich offen, erkannte aber gleichzeitig wieder die tapsenden Schritte um sich her. Der Regisseur Johan Bergenstråle, der Fotograf Staffan Lamm und er selbst hatten jedoch schließlich eingesehen, dass es vielleicht Probleme geben könnte, die Kassetten durch den Zoll zu bekommen. Sie hatten keine Genehmigung, gefilmtes Material außer Landes zu bringen. Deshalb hatten sie plötzlich beschlossen, einen Umweg zu machen, nach Osten. Als erstes flogen sie nach Minsk.
Es war eine andere Expedition in das Herz der sowjetischen Finsternis, jetzt jedoch voller Sinnlosigkeiten. Sie verbrachten in einem Hotel am Stadtrand von Minsk eine eiskalte Woche, während sie die Alternativen abwägten. Er selbst traf dort seltsamerweise einige Freunde aus Greifswald. Unter ihnen war sie. Sie arbeitete jetzt als Managerin einer Boxtruppe aus der DDR. Er verbrachte deshalb eine Nacht in einer Sporthalle und wohnte einem sowjetischen Boxturnier bei; es ist ein intensives und kurzes Wiedersehen mit der jungen Studentin, der er vor vielen Jahren in Greifswald begegnet war.
Es ist vorbei.
Er weiß, dass er nicht ins Jahr 1957 zurückkehren kann. Er fährt mit dem Bus der Boxer von der Halle ab, steigt bei seinem Hotel aus und sieht sie nie wieder.
Die drei in Minsk Gestrandeten trinken jetzt immer desperater, aber spät am Abend der fünften Nacht beschließen sie, das Hotel mit Filmkameras und Kassetten zu verlassen und ihr Glück zu versuchen, indem sie in den Zug von Moskau nach Berlin steigen, der Minsk um 0.05 Uhr verlässt.
Der Fußboden der Bahnhofshalle bedeckt von schlafenden Menschen.
Theoretisch gesehen ist die Heimreise zum Scheitern verurteilt, aber dank ihres kräftigen Rauschs glauben sie, dass alles möglich ist. Die Genossen an der Grenze werden sicher Gnade vor Recht ergehen lassen! Und im übrigen haben die Nachrichten von der revolutionären Erhebung der schwedischen Arbeiterklasse auf den Erzfeldern, vom Grubenstreik in Kiruna, sie schon in Riga erreicht, allerdings in so unklarer Form, dass sie glauben, dieser Funke habe bereits einen Präriebrand ausgelöst.
Wenn die Welt jetzt vom Wahnsinn ergriffen worden ist und das Undenkbare schon fast eingetroffen, das heißt, das sichere Schweden in den Präriebrand der Revolution geschleudert worden ist, warum sich dann um Probleme an der Grenze Sorgen machen? Unfug!
Sie betrinken sich in voller Absicht sinnlos.
In Brest-Litowsk kommen die Kontrolleure ins Abteil, in dem sie bis dahin allein gewesen sind. Reisende nach Westen sind in der Sowjetunion nicht zahlreich, auf jeden Fall nicht in diesem vorsintflutlichen Waggon. Die drei Schweden stellen wegen ihrer Trunkenheit, die sie schwer erreichbar macht, für die Kontrolleure ein logistisches Problem dar. Der Alkohol verdeckt die Konterbande. Der tief schlafende Fotograf Staffan Lamm, dessen Kopf auf den verdächtigen Blechdosen ruht, und der dem Anschein nach bewusstlose Bergenstråle und er selbst, der sich mit Mühe aufrecht hält, keiner von ihnen lässt sich kontrollieren, und die Zeit an der Grenze ist kurz. Die Drei werden von resignierenden Grenzwächtern, die ihren Verfall mit Widerwillen betrachten, nach Westen weitergeschickt.
Alles geht so leicht.
Noch unter dem Einfluss seiner exillettischen Freunde und Feinde und ihres Denkens stehend, grübelt er darüber nach, ob diese Filmexpedition von Anfang an überwacht worden ist. Dass sie wie nützliche Idioten während ihrer irrationalen und kräftig alkoholisierten Flucht in Wahrheit nicht nur überwacht, sondern auch beschützt worden sind. Doch das Chaos und den Verfall betrachtend zweifelt er daran.
Im Schneesturm über die polnischen Ebenen. Nach Ostberlin, danach Westberlin. Die Welt wirkt bar jeder Kontrolle.
Vielleicht ist das der neue Stand der Dinge? Vielleicht war all das mit der Mauer ganz einfach übertrieben. Von hinten angegangen war die Mauer vielleicht löchrig! Über seinem Arbeitstisch im Heizungskeller hängt eine Reproduktion von Max Ernsts Europa nach dem Regen , das Bild mit der zerfallenden Stadt, die vom Dschungel überwachsen wird.
Vielleicht ist er dorthin auf dem Weg.
Er hat ein einjähriges Stipendium erhalten und nimmt die Familie mit nach Westberlin.
An den ersten Januartagen des Jahres 1970 fährt er mit seiner Frau Margareta und dem jetzt neunjährigen Sohn Mats in einem mit allem Arbeitsmaterial vollgepackten Wagen
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