Ein anderes Leben
in gerader südlicher Richtung durch die DDR nach Westberlin. Die Düsterkeit der grauen Landschaft der DDR ist beinahe lähmend, aber er ruft sich zur Ordnung und denkt wie immer, dass der Sozialismus nicht an einem Tag gebaut wird, und am Schluss endet es doch immer in Sozialdemokratie.
Die Tochter Jenny ist jetzt zwei Jahre alt.
Sie ist blond und strahlt beständig mit ihrem schönen Lächeln, und sie wollen sie deshalb zusammen mit ihrem Kindermädchen Marianne mit dem Flugzeug schicken. Der Reiseplan ist dem Anschein nach töricht, baut aber auf einer tiefgehenden Analyse auf. Da die Besatzungsmächte immer noch die Fluggenehmigungen kontrollieren und es keinen Direktflug von Stockholm nach Westberlin gibt, und da das Kindermädchen erst sechzehn Jahre alt ist und mit dem Umsteigen in Hamburg wohl überfordert wäre, finden sie eine einfache und praktische Lösung: Direktflug Stockholm – Schönefeld, also Ostberlin. Von dort gehen Busse nach Westberlin.
Man muss sich wohl auf die ostdeutschen Genossen verlassen können! Er sagt es im Scherz, aber mit einem Anflug von Ernst, der alle beunruhigt.
Sie warten geduldig an der Haltestelle in Westberlin, wo der Transitbus aus Schönefeld ankommen soll, jetzt in immer dichterem Schneetreiben. Kein Bus und kein Kind.
Und sie sehen schließlich ein, dass etwas passiert ist.
Um vier Uhr am Nachmittag hätten die beiden eintreffen sollen.
Niemand kommt. Um acht, und nachdem er in die Wohnung in Westberlin zurückgekehrt ist, gelingt es ihm, Kontakt zu der ostdeutschen Fluggesellschaft zu bekommen, die ihm mitteilt, dass die Maschine aufgrund des Schneesturms über Berlin gezwungen war, nach Prag weiterzufliegen, wo die Passagiere auf bessere Zeiten hoffen dürfen.
Starke Beunruhigung ist jetzt vonnöten. Sie wissen, dass das Kindermädchen nur Schwedisch spricht. Um elf Uhr ist noch kein neuer Bescheid gekommen, aber eine Stunde später teilt Schöneberg, wohin inzwischen via Stockholm ein Kontakt hergestellt worden ist, mit, dass die Maschine von Prag gestartet sei und die Landung um 0.45 Uhr erwartet werde. Fünfzehn Minuten später jedoch neue Nachrichten. Ein sich verdichtender Schneesturm über Berlin hat die Maschine zur Umkehr gezwungen, sie soll jetzt in Budapest landen.
Danach Informationsstopp. Er beschließt daraufhin, nach Schönefeld zu fahren, um das weitere Geschehen vor Ort zu verfolgen. Er nimmt den Wagen und fährt zum Checkpoint Charlie, wo ihm eröffnet wird, dass er keine Einreisegenehmigung für den Flugplatz hat.
Er betritt die ostdeutsche Wachstube, um mit den ostdeutschen Genossen zu reden.
Sie trinken Kaffee und sehen nicht so nett aus, wie er erwartet hat. Er fasst sich aber und bemüht sich, Gelassenheit und kameradschaftliches Verhalten an den Tag zu legen, erwähnt nebenbei die freundliche Einstellung der schwedischen Regierung zur DDR und dass die Anerkennung kurz bevorstehe, und findet, dass die Männer seine Besorgnis um das Kind teilen, aber kraftlos wirken, was ihn verwundert. Dies ist immerhin die DDR! Er zeigt ein Foto des Kindes, sie ist goldlockig und lächelt scheu; sie studieren das Foto schweigend. Er bittet sie anzurufen. Sie schütteln den Kopf, zumindest der wachhabende Offizier tut es, aber er vermutet, dass die übrigen dessen Auffassung teilen. Endlich greift der Wachhabende doch zum Telefon, aber nur um zu erfahren, dass der Schneesturm über Schönefeld noch zugenommen hat. Er verwendet das deutsche Wort ›dicht‹, das ihn an etwas bei Brecht erinnert.
Er fährt zurück in die Wohnung in der Meinekestraße 6, wo seine Frau jetzt in Tränen der Verzweiflung ausbricht. Kommt per Telefon nach Stockholm durch und erhält die Nachricht, dass die Maschine tatsächlich in Budapest gestartet ist, aber wegen des zunehmenden Unwetters den Landeanflug abbrechen musste und jetzt nach Warschau umgeleitet worden ist, dem einzigen osteuropäischen Flugplatz in Reichweite, der noch offen und nicht vom Schneesturm lahmgelegt ist.
Hamburg wäre näher gewesen, ist jedoch politisch unmöglich. Plötzlich fühlt er, dass Europa geteilt ist.
Er fährt ein zweites Mal zum Checkpoint Charlie.
Geht durch den sehr dicken Schneematsch hinüber auf die ostdeutsche Seite, um mit den Genossen zu sprechen, die ihn wiedererkennen.
Er findet die Situation nicht mehr erträglich.
Er befindet sich in Europas Mitte, aber Grenzen existieren tatsächlich. Das Chaos von Minsk und Brest-Litowsk war nur ein scheinbares, jetzt gibt es keine
Weitere Kostenlose Bücher