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Ein besonderer Junge

Ein besonderer Junge

Titel: Ein besonderer Junge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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die Küche führen. Ich hatte mich an diesem Tag entschlossen, zum Abendessen Fleisch zu kaufen, und forderte ihn auf, mit dem Essen zu beginnen. Angesichts seines entsetzten Blickes begriff ich meinen Irrtum, doch es war zu spät: Iannis schien die Überreste eines toten Tiers zu betrachten, das in seinem Blut schwamm. Ich wappnete mich schon für einen Anfall, als er, zweifellos um mir eine Freude zu machen, sein Messer in die Hand nahm und sich anschickte, das Fleisch zu schneiden, wobei ihm jedes Mal, wenn er die Klinge auf das rosige Fleisch setzte, ein gellender Schmerzensschrei entfuhr. Wie versteinert sah ich ihm zu und konnte mich nicht rühren: Iannis zerstückelte sich selbst vor meinen Augen.
    Als ich mich wieder fasste, stürzte ich zu ihm, um ihn von seinem Teller zu befreien. Absätze klapperten, und Helena stand mit Funken sprühenden Augen in der Küche. Wütend betrachtete sie den Tisch.
    »Kein Fleisch, Louis! Nie! Haben Sie mich verstanden? Glauben Sie etwa, ich bitte Sie aus Fantasielosigkeit, jeden Tag dasselbe einzukaufen? Ich bitte Sie, keine Initiativen dieser Art, tun Sie einfach, was man Ihnen sagt, damit ersparen Sie uns eine Menge Probleme!«
    Ohne mir Zeit zu einer Erwiderung zu geben, machte sie auf dem Absatz kehrt und ging zurück ins Wohnzimmer. Ich hörte ihr Feuerzeug klicken, doch das Rattern der Tasten unter ihren Fingern blieb aus. Sie hatte Iannis, der den Kopf zwischen die Hände presste und dabei vor und zurück wippte, mit keiner Geste, keinem tröstenden Wort beachtet, sondern nur ihre Wut an mir ausgelassen.
    Tun Sie einfach, was man Ihnen sagt!   …
Ebenfalls wütend schluckte ich alle die Erwiderungen, die mir in den Kopf kamen, und schloss Iannis’ Hände in meine. Sie krallten sich fest, bohrten sich mit den Fingernägeln in meine Handflächen. Warum hatte Helena mich nicht vorgewarnt, und warum war ihr Verhalten jetzt so anders? Ich konnte mich des Gedankens nicht erwehren, dass sie mich erneut auf die Probe gestellt hatte. Tief in ihren vor Wut noch dunkleren Augen hatte ich einen winzigen Funken der Zufriedenheit leuchten sehen: dass sie mich bei einem Fehler ertappt hatte.

 
    »Kommen Sie zu mir ins Wohnzimmer, wenn Sie Iannis zu Bett gebracht haben!«
    Obwohl Helenas Stimme wieder milder klang, machte ich mir Sorgen, ob sie mir nach dem Zwischenfall beim Abendessen nicht kündigen würde. Die Stadt zu verlassen, meine Erinnerungen unter dem Strand von Horville zurückzulassen, das alles hätte sicher eine Last von mir genommen. Viel schwieriger schien es mir dagegen, mich von Iannis zu verabschieden, so dass ich mit pochendem Herzen die Treppe hinunterstieg.
    Auf dem Couchtisch standen zwei Gläser bereit. Ich nahm die Zigarette, die Helena mir anbot, und konzentrierte mich auf die Rauchspiralen. Ich wartete darauf, dass sie die Initiative ergriff und das Schweigen beendete.
    »Die Tage vergehen schnell, nicht wahr? Ist Iannis sehr anstrengend für Sie?«, fragte sie nach einigen Minuten.
    Ihre Stimme war wieder ruhig, freundschaftlich geworden, es war klar, dass sie nicht auf den Vorfall zurückkommen würde. Ich versicherte ihr, dass mir die Tage mit ihremSohn viel gaben und dass er unvermutete Fähigkeiten an den Tag legte. Immer bemüht, meine Beziehung zu Iannis zu bewahren, wurde ich lieber nicht deutlicher. Sie fragte nicht nach Einzelheiten, doch sie stieß ein leises Lachen aus, das wie immer in einen Hustenanfall mündete.
    »Ich meine fast, ich höre die Erzieher sprechen, die sich in der Tagesklinik um ihn kümmerten! Sie waren besonders talentiert darin, alles ›positiv‹ zu sehen, wie man so sagt! Fähigkeiten, gewiss   …, aber wenn Sie immer mit ihm zusammenleben würden, wären Sie ebenso erschöpft davon, diese Fähigkeiten zu erahnen, wie ich!«
    Ohne mich aus den Augen zu lassen, führte sie ihr Glas mit jenem eindringlichen Blick an die Lippen, der mich einmal mehr in Verlegenheit brachte. Mit diesem tiefen Blick fügte sie hinzu:
    »Sein Vater glaubt schon lange nicht mehr daran, ich habe versucht, mich nicht von seinem Pessimismus anstecken zu lassen, doch jetzt denke ich, es ist umsonst.«
    Ihr Gesicht sah mitgenommen aus, ich dachte, jetzt bricht sie gleich zusammen, und protestierte aus Prinzip, gab ein paar Banalitäten von mir über die Hoffnung, die man niemals aufgeben sollte, aber sie fiel mir ins Wort:
    »Sechzehn Jahre! Er ist sechzehn Jahre alt, er spricht nicht, er liest nicht, er schreibt nicht, manchmal passiert es

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