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Ein besonderer Junge

Ein besonderer Junge

Titel: Ein besonderer Junge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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noch, dass er sich einnässt, und Sie erzählen mir etwas von Hoffnung!«
    Nur der Schmerz, den sie angesichts eines so rätselhaften Sohnes empfand, konnte diese Heftigkeit erklären. Sie goss sich noch einmal Calvados ins Glas.
    »Sie sind kaum eine Woche hier und haben ihn offenbar bereits ins Herz geschlossen. Was interessiert Sie so an meinem Sohn?«
    Mehr als eine Antwort erwartete sie, dass ich ein neues Licht auf diesen seltsamen Jugendlichen warf, der ihr Leben teilte. Unter dem Einfluss des Alkohols preschte ich vor, ohne mich um die Reaktion zu kümmern, die ich auslösen könnte, und nahm mir heraus, ihr zu sagen, dass ihr Sohn unsere geheimsten Gedanken mitbekomme, dass er unsere Gefühle und unsere Ängste aufsauge wie ein Schwamm. Ich hatte nicht groß darüber nachgedacht, hatte mich spontan zu dieser Feststellung hinreißen lassen, provoziert von der ängstlichen Erwartung, die ich bei Helena gespürt hatte. Zu mir gebeugt, hörte sie mir aufmerksam zu, dann atmete sie einen langen Rauchschwaden aus wie einen endlosen Seufzer:
    »Als ich vor einigen Jahren an Depressionen litt, wurde er krank, richtig krank   …, so krank, dass ich glaubte, ich würde ihn verlieren.«
    Sie hatte die letzten Worte für sich selbst gesagt. Sie hatte aufgehört, mich mit ihrem Blick zu fixieren, stattdessen ließ sie ihn wie ihr Sohn über mich hinweg durch die Dunkelheit wandern, die uns umgab.
    Es war das erste Mal, dass wir uns so vertraulich unterhielten. Die greifbare Spannung, die im Zimmer lag, hatte nachgelassen, Helenas Schultern waren locker geworden, mit dem Rücken ans Sofa gelehnt saß sie zwanglos da. Neugierig, ein wenig mehr über ihre Beziehung zu ihrem Sohn zu erfahren, fragte ich sie, was sie besonders an ihm mochte.
    »Seine Schönheit.«
    Sie hatte nicht gezögert, und ihr verlorener Blick bekam wieder Glanz.
    »Und Sie?«, fragte sie in fast fröhlichem Tonfall zurück.
    Ich erwiderte, es sei die Klarsicht von Iannis, die mich am meisten berührte. Ich hätte nicht sagen können, warum ich dieses Wort verwendet hatte.
Klarsicht
– ich war mir sicher, eine treffendere Bezeichnung hätte ich nicht finden können.
    »Und was mögen Sie am wenigsten?«, hakte sie mit einem Anflug von Ironie nach, als spielten wir plötzlich am Ende eines Ferientags eine Art Personenraten. Ich brauchte nicht nachzudenken: Was ich bei Iannis am schwersten ertrug, war sein Leiden. Sie nickte zustimmend, und während sie sich erhob, um sich zurückzuziehen, fügte sie, den Blick auf mich gerichtet, mit einem angedeuteten Lächeln hinzu:
    »Bei mir ist es sein Geruch.«
    Und in der Dunkelheit des Flurs, oben auf der Treppe, bevor sie sich in ihr Zimmer zurückzog, warf sie mir im Umdrehen noch zu:
    »Ganz anders als Ihrer, junger Mann, der ist sehr angenehm.«

 
    Mit dem Glas in der Hand blieb ich noch eine Weile im Wohnzimmer. Ich zündete mir eine Zigarette aus dem Päckchen an, das auf dem Couchtisch liegen geblieben war. Über mir hörte ich einige Augenblicke lang Schritte, dann breitete sich nächtliche Stille im Haus aus. Ich dachte über Helenas Worte nach. Ihr letzter Satz hatte mich verwirrt und einen Wandel in unserer Beziehung angedeutet, der mich eher erschreckte, als dass er mich reizte. Was den beißenden Geruch anging, der tatsächlich manchmal von Iannis ausging, stellte ich fest, dass ich darauf nicht besonders geachtet hatte.
    Eine Erinnerung stieg in mir auf. An einem Julimorgen hatte sich eine Tragödie am Strand ereignet. Eine kleine Menge Badender hatte sich versammelt und starrte auf einen Punkt am Horizont. Ganz wie in dieser toten Nachsaison flossen Meer und Himmel ineinander. Eine kühle Brise plusterte die Sonnenschirme auf, und nur ein roter Fleck fern am Horizont verlieh der Landschaft ihre wahren Proportionen. Auf der Mole beobachtete ich mit anderen Kindern vom Club des Goélands das Ruderboot der Rettungswacht,das auf ein schwimmendes Etwas zusteuerte: ein kleines Schlauchboot, das, vom ablandigen Wind hinausgetrieben, immer kleiner wurde. Lange hatte mich dieser Anblick heimgesucht, und in den Nächten, die diesem Unglück folgten, hätte ich gerne die Schreie der Frau vergessen, die von den Schaulustigen am Strand gestützt wurde und ständig versuchte, sich loszureißen, um mit ausgebreiteten Armen ins Meer zu laufen.
     
    Starr vor mich hinblickend, flüchtete ich vor dem Getöse: vor den quietschenden Reifen, gefolgt von den Beschimpfungen des Fahrers. Ich hielt meine Gummisandalen

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