Ein besonderer Junge
über Weichen hat ihn nicht aus seiner Erstarrung geweckt. Immer mal wieder versuche ich seine Aufmerksamkeit auf eine Beobachtung in der Landschaft zu lenken, doch nichts scheint ihn aus seinen Gedanken reißen zu können. Ich beuge mich zu ihm: Seine Augen sind geschlossen, anscheinend hat ihn das Schlingern des Zugs in den Schlaf gewiegt, und sein regelmäßiger Atem haucht weiterhin kleine, sich schnell auflösende Wolken auf die Scheibe.
Wiesen und Hügel fliegen an mir vorbei, und ich lasse meinen Gedanken freien Lauf. Während meines Aufenthalts in Horville hat Frédéric gerade noch die Hand Sophie Arnoux’ küssen können, bevor Flauberts Roman in mein Gepäck zurückwanderte, und mehr als ein paar wenige Gedichte konnte Rimbaud mir nicht zuflüstern, bevor er sich inAbessinien die Flügel verbrennt … Das strahlende Lächeln Antoines verweilt einige Sekunden auf der Scheibe des Waggons, dann verschwindet es, und übrig bleibt ein hartnäckiger Gedanke: In knapp zwei Stunden werde ich Iannis seinem Vater übergeben und ihn nie wiedersehen. Ich werde nicht einmal die Möglichkeit haben, mir vorzustellen, er sei dort glücklich, wo er hinfährt. Wie konnte ich in so kurzer Zeit einen Jungen lieb gewinnen, der nicht ein Wort an mich gerichtet, mir kaum einen Blick geschenkt hat? Wie war es ihm gelungen, eine so enge Beziehung zu mir zu schaffen? Trotzdem musste ich diese Verbindung jetzt lösen und von nun an ohne das junge Medium leben, das in meinen Gedanken las. Ich werde nach Paris zurückkehren, versuchen, mein Studium fortzusetzen, doch ich werde nicht wieder in diese Teilnahmslosigkeit zurückfallen, die mich hierher gebracht hat. Der chronisch Gehemmte,
der große Schweiger
, der meine Eltern beunruhigte, der
angepasste
Junge, der Helenas Annäherungsversuche zurückwies, gehören der Vergangenheit an, ein Monat hat genügt, um diese abzulegen wie ein altes Kleidungsstück auf dem Strand von Horville. Meine Gespenster, meine Ängste sind verschwunden: Liegt es an Helena, verdanke ich das Iannis?
Langsam senkt sich mein Kinn auf meine Brust, meine Fragen dämmern wirr vor sich hin, und ich schlummere ebenfalls ein.
Das durchdringende Quietschen der Räder des Triebwagens reißt mich aus dem Schlaf, kündigt die Notbremsung des Zuges an, der mitten in der Landschaft stehen bleibt. Meine Reisetasche ist vom Gepäckträger herabgefallen, fastwäre ich selbst von der Sitzbank geschleudert worden. Ich höre die aufgeregten Stimmen der Reisenden in den Nachbarabteilen, das schnelle Traben des Schaffners auf dem Gang, und ich frage mich, welchem Unglück wir gerade entronnen sind. Dann sehe ich Iannis, er lächelt, hängt an der Notbremse über unseren Köpfen, und ich begreife, was geschehen ist. Ich war nicht wachsam genug: Ich hatte den Griff ja gesehen, als wir ins Abteil kamen, und da ich weiß, dass Iannis zu allem fähig ist, hätte ich ihn davon fernhalten sollen. Ich beeile mich, seine Finger loszumachen, nötige ihn, sich wieder auf seinen Fensterplatz zu setzen. Da sehe ich gerade noch, bevor sie verschwinden, die Buchstaben meines Vornamens in dem Kreis, mit dem sein Atem die Scheibe beschlagen hat.
Das abrupte Anhalten des Zugs hat die Reisenden wachgerüttelt, jetzt eilen sie auf den Flur, ziehen die Fenster herunter, beugen sich mit fragenden Gesichtern aus dem Zug. Ein Konzert von Rufen, erschrockenen Stimmen und Kindergeplärr hallt durch den Waggon, und mit erstaunlicher Ruhe inmitten dieses Radaus merke ich, wie eine verrückte Idee in mir aufkeimt. Nein, die Fragen der Schaffner, die Bemerkungen der Reisenden werden wir nicht über uns ergehen lassen, das kommt nicht in Frage. Ich will Iannis’ Verhalten nicht noch einmal erklären müssen, sagen, dass er anders ist, um seine Tat zu entschuldigen. Im Handumdrehen steht mein Entschluss fest: Iannis hat die Notbremse wegen mir gezogen, mein Name, der mit dem Niederschlag auf der Scheibe verschwunden ist, bestätigt dies eindeutig. Wenn ich seine Nachricht verstanden habe, muss ich diesem Hilferuf folgen.
Ich packe meine Tasche, nehme Iannis’ Tasche an mich, fasse die ausgestreckte Hand des Jungen und ziehe ihn in den Flur. Das Durcheinander dort macht uns für die Blickeder Mitreisenden völlig unsichtbar. Mit Schulterrempeln und Drängelei im Rücken der Mitreisenden bahnen wir uns einen Weg bis zum Ende des Waggons.
Der Irrsinn meines Tuns bremst nicht eine Sekunde meinen Schwung, im Gegenteil, ein Lächeln legt sich auf
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