Ein besonderer Junge

meine Lippen, ich gehorche plötzlich einer Parole der Studentenrevolte, die ich einmal im Vorübergehen gesehen habe:
Seid realistisch, fordert das Unmögliche!
Ich betätige den Türöffner, die Tür schwenkt auf, und vor mir liegen die Wiesen, die den Bahndamm säumen. Der Wind zeichnet Wellen darauf, eine Böe wirbelt Gräser auf, und ich sauge, die Hand ans Geländer geklammert, die windige Luft ein, die mich berauscht. Iannis schlüpft unter meiner Schulter durch, berührt kaum das Trittbrett und wartet nicht, bis ich ihn auffordere zu springen. Er ist vor mir auf dem Schotter, und er gibt die Richtung vor, indem er mich entschlossen am Arm zieht.
    Als die ersten hohen Gräser unsere Beine peitschen, drehe ich mich um. Aus der Ferne und im Gegenlicht sieht der Zug aus wie ein Kinderspielzeug. Iannis folgt dem Lockruf der Wiesen, die vor uns liegen, so weit das Auge reicht, und er zieht immer stärker an meinem Arm, bis ich zusammen mit ihm dem Horizont entgegenstürme.
    Wie lange wird dieses Ausreißen dauern, wann wird man uns finden? Höchstens ein paar Tage, aber es werden Tage sein, die ich allein mit Iannis verbringe, bevor ich ihn für immer verliere. Atemlos schwanke ich zwischen Lachen und Weinen beim Gedanken an das, was mir gerade widerfährt.
    Wo ist jener Louis geblieben, der Jahr für Jahr sein Leben mit sich herumschleppte auf der Jagd nach einer Zukunft,die er sich nicht ausgesucht hatte? Ohne sich um die Folgen zu kümmern, ohne an die Reaktion von Iannis’ Eltern zu denken, ohne Angst vor den Konsequenzen seines verrückten Handelns, flieht der besondere Junge, der Gehemmte, der große Schweiger durch die Felder, hält die Hand eines verrückten Kindes und ist glücklich dabei.

Danksagung
    Danke all den leiderfüllten Kindern, die mich zur Figur des Iannis angeregt haben.
    Danke Martine Boutang, deren hoher Anspruch mir hilft, meine Aufzeichnungen in Romane zu verwandeln.

Informationen zum Buch
    Iannis ist sechzehn Jahre alt, von außergewöhnlicher Schönheit und anderen Menschen gegenüber völlig verschlossen. Er ist der »besondere« Junge, für den sein Vater in einer Stellenanzeige an der Universität eine Betreuungsperson sucht. Louis kämpft sich im Paris der Siebzigerjahre durch sein Studium, weiß nicht so recht, was er anfangen soll mit seinem Leben. Er meldet sich auf die Anzeige, auch weil er sich in Horville um den Jungen kümmern soll, einem kleinen Badeort in der Normandie, den er aus seiner Kindheit sehr gut kennt. In einem Ferienhaus trifft Louis zum ersten Mal auf Iannis und seine Mutter Helena. Iannis spricht nicht, gestikuliert wild, läuft zuweilen aufgeregt umher. Helena schreibt erotische Geschichten, trinkt gerne Whisky und beginnt bald, Louis zu umwerben. Louis, unsicher, verwirrt und doch neugierig, ahnt, dass sich sein ganzes Leben nun ändern wird.
    Philippe Grimbert wurde in Deutschland durch seinen Roman ›Ein Geheimnis‹ bekannt, in dem er die dramatische Geschichte einer Familie in Paris während der deutschen Besatzung schildert. In seinem neuen Roman erzählt Philippe Grimbert eindringlich, spannend und sehr kenntnisreich vom Erwachsenwerden, vom Anderssein.

Informationen zum Autor
    Philippe Grimbert
, geboren 1948 in Paris, ist Psychoanalytiker mit einem Schwerpunkt in der Jugendpsychiatrie. Neben zahlreichen Essays veröffentlichte er seit 2001 mehrere Romane. Sein zweites Buch ›Un secret‹ erschien in Frankreich im Jahr 2004, wurde vielfach ausgezeichnet und ein großer Erfolg. Auch in Deutschland wurde ›Ein Geheimnis‹ in der Kritik hoch gelobt und ein Bestseller. Claude Miller verfilmte ›Ein Geheimnis‹ 2007.