Ein besonderer Junge
zu springen, meine Reisetasche zu schnappen, meine Sachen reinzuwerfen und Reißaus zu nehmen. Von meiner Reaktion überrascht, hörte Iannis auf zu weinen, sein Blick senkte sich in meinen, und zum ersten Mal seit meiner Ankunft sahen wir uns einige Sekunden lang, die mir wie eine Ewigkeit vorkamen, wirklich gegenseitig an.
Ich trocknete ihn ab, bevor ich mich selbst mit einem sauberen Handtuch abrieb, dann stopfte ich sein Bettzeug in die Waschmaschine, überzog das Bett neu, legte ihn ins Bett, zwang mich, ruhig mit ihm zu sprechen, bis er in den Schlaf fiel. Mein Herz zersprang schier. Es kam nicht in Frage auch nur eine Sekunde länger in diesem Zimmer zu bleiben, in dem noch immer der Geruch hing, der mich geweckt hatte. Ich riss das Fenster auf, dann stürzte ich die Treppe hinunter. Ich wunderte mich, dass der Krach Helena nicht aus dem Schlaf gerissen hatte. Ich verließ meinen Posten, schlüpfte in meinen Mantel, trat aus der Tür und eilte davon, um die saubere Luft auf der Mole zu atmen.
So trübselig, wie die letzten Jahre für mich verlaufen waren, befürchtete ich, aufgrund der vielen widersprüchlichen Gefühle und erschütternden Ereignisse Schiffbruch zu erleiden. Zu meinem großen Erstaunen hatte Iannis’ irrsinniges Verhalten nicht verhindert, dass ich Zuneigung zu ihm fasste, selbst nach dieser überaus heiklen Nacht. Ihre zuletzt geäußerten Worte eröffneten mir ein Verhältnis zu Helena, das ich nicht in Betracht ziehen wollte: Ich war gewiss nicht nach Horville gekommen, um hier ein Liebesabenteuer zu erleben, erst recht nicht, um die Launen einer Frau zu befriedigen, die kein Begehren in mir weckte. Doch vor allem musste ich mich, und das ängstigte mich am meisten, mit Erinnerungen beschäftigen, die im Verborgenen geblieben waren, als wären sie in der Dunkelheit der am Meer aufgereihten Strandkabinen weggeschlossen gewesen. Die vielen Träume, die mich jede Nacht umtrieben, zeugten von ihrer Rückkehr, sie lösten sich wie Erz aus dem umgebenden Gestein, überschwemmten den Strand wie eine Springflut und setzten zum Sturm auf mein Schlafzimmer an.
Im Schein einer Straßenlaterne reglos auf der Mole sitzend, beruhigte ich mich allmählich wieder. Der tintenschwarze Himmel verbarg die Sterne, und über das Geländer hinweg hallte die Brandung leise wider. Der kühle Luftzug tat mir gut. Ich wollte im Sand gehen, steuerte deshalb das kleine Schild des Club des Goélands an, ging unter dem seiner Spielgeräte beraubten Schaukelgerüst durch, kletterte die Leiter der Rutschbahn hoch und setzte mich ganz oben hin mit Blick auf die abschüssige Bahn. In meinen Mantel gehüllt, über den Badeort wachend wie ein Türmer, muss ich einem Nachtvogel geglichen haben, der sich unter seine Flügel kauert. Von dort oben überblickte ich den ganzen Damm vom Bunker bis zu einem kleinen Park, dem Jardin de la Baleine, die gleichmäßigen Lichtkreise, die die Laternen auf den Asphalt warfen, das graue Tischtuch des Meeres, über dem in der Ferne die Lichter von Le Havre blinkten. Hinter den Schieferdächern ahnte ich den Kirchturm und die Mauern des kleinen Friedhofs, der die Kirche umgab.
Antoine und ich gingen gerne dorthin, wenn wir nichts zu tun hatten. Wir rannten die Wege entlang, stellten Vasen und Holzkreuze wieder auf, die der Wind umgeworfen hatte. Wir ordneten die Plastikblumen und bliesen den Staub von den Fotos der Verstorbenen. Aber die Gräber, vor denen wir am längsten verweilten, waren mit weißen und blassrosa Blumen geschmückt.
Wir nutzten den Fund eines aus dem Nest gefallenen Vogels, einer von einer Katze zerfleischten Maus, zu einer Feier. Wir warteten bis Sonnenuntergang und gruben hinter dem Holunderhain ein Loch, um die kleine Kreatur dort zu begraben. Eines Abends während des Begräbnisses einer Taube bekamen wir einen großen Schrecken. Wir hatten eine Reihe Lunten und Salzstreuer angezündet, um den Augenblick etwas feierlicher zu machen. Als sie abbrannten, bewegte sich die Erde plötzlich, als ob der Vogel versuchte, aus seinem Grab aufzusteigen, und wir flohen ans andere Ende des Gartens. Unsere Begräbnisfeier hatte die Ruhe eines Mäusenests gestört, und vom Zischen der Flammen erschreckt flohen die kleinen Nager.
Hinter den letzten Häusern von Horville zog sich eine schwarze Gischt hin: Der Bocage ringsum, in dem man auf Hohlwegen oder durch die im Sommerwind wogenden Weizenfelder lange Spazierfahrten mit dem Fahrrad unternehmen
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