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Ein besonderer Junge

Ein besonderer Junge

Titel: Ein besonderer Junge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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ihr entfuhr ein kurzer Lustschrei. Ihr Körper fing an zu zittern, dann entspannte sie sich und sank auf meine Brust. Einige Sekunden lang blieb sie dort ganz gelöst liegen, biss sich auf die Lippen, betrachtete mich schließlich einen Augenblick und stand wieder auf.
    Dann musterte sie mich mit einem ironischen Blick:
    »Siehst du, ich habe trotzdem meinen Spaß mit dir gehabt. Ohne dass wir uns ausziehen, ohne dass du mich berührst. Ohne dass du in mich eindringst. Ich hoffe, es wird deine kleine Liebesgeschichte nicht gefährden.«
    Ich ließ Helena stehen, ging zur Treppe. Ich hörte ihrFeuerzeug klicken, dann hielten ihre Finger kurz auf der Schreibmaschinentastatur inne.
    »Ich werde es jeden Abend versuchen, Louis«, fügte sie hinzu.
    Und ich würde jeden Abend verzichten, gab ich in herausforderndem Tonfall zurück.
    »Es ist spät geworden, gehen Sie schlafen, Iannis wacht früh auf«, rief sie mir einfach aus dem Wohnzimmer hinterher.
    Der Tag war anstrengend gewesen, und der Abend hatte mir den Rest gegeben. Ohne das Licht im Flur anzumachen, stieg ich die Treppe hinauf wie ein Kind, das bestraft und auf sein Zimmer geschickt wird.

 
    Ich hatte ein Bedürfnis nach Unschuld und Ruhe. Iannis strahlte eine große Friedfertigkeit aus, wenn er schlief: Wieder stand ich an seinem Kopfkissen, betrachtete sein schlafendes Profil. Einmal mehr dachte ich darüber nach, wie sehr sich die Lethargie, in die mich all die Jahre des Umherirrens gestürzt hatten, von dem Wirbel der Vorfälle der letzten Tage unterschied. Seit ich in Horville war, zwangen Iannis und seine Mutter mich, aus mir herauszugehen. Doch während ich in der Auseinandersetzung mit Helena meine Bezugspunkte verlor, eröffnete mir die Beziehung zu Iannis unerforschte Gebiete und lud mich ein, Licht in dieses Dunkel zu bringen.
    Der Anblick des zerzausten Haars des Jungen, der sorgenvollen Falte, die seine Stirn durchfurchte, ließ mich zur Ruhe kommen. Wenn er so schlief, sah er aus wie alle Jugendlichen seines Alters, wirkte er ebenso anmutig und zerbrechlich wie sie. Beim Aufwachen hätte er mich fröhlich begrüßen können, hätte aufspringen und mir eine Wanderung über Land oder eine Partie Volleyball am Strand vorschlagenkönnen. Stattdessen würde er sich in die Hände beißen, sich wiegen und seinen leeren Blick über eine Welt irren lassen, die ihm entging. Und nur weil ich um dieses große Unglück wusste, beugte ich mich über Iannis und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn.
    Auch in dieser Nacht marschierte der feierliche Aufzug durch das schlafende Horville.
     
    Vom Denkmal für die Gefallenen bis zum Bunker bewegten sich die Lichter eines Fackelzugs über die Mole. Den Nebel zerreißend, der die Uferpromenade entlangkroch, beleuchteten die Laternen und Fackeln die Gesichter dieser Kohorte von Schatten, die mir entgegenkamen. Mit schwarz untermalten Augen, kalkweißer Haut und geschminktem Mund schenkte mir der Admiral in seinem Blazer mit den goldenen Knöpfen ein zahnloses Lächeln. Auf seinen Stock gestützt, zeigte der weiße Pater ein Sepiafoto, auf dem Jäger mit einer Säge den Fuß eines Elefanten abtrennten. Kinder, die Grimassen schnitten, als trügen sie Karnevalsmasken, schwenkten Fackeln. Schließlich erschien die undeutliche Gestalt eines kleinen Jungen im blauen und roten Schein seiner Papierlaterne. Ich konnte nur seine hellen, entschlossenen Augen erkennen. Er hatte Erde im Gesicht und fixierte mich starr, ohne zu blinzeln. Und wieder hatte er den Finger auf die Lippen gelegt und bat mich zu schweigen.
     
    Wer hätte sich die Ereignisse des Vorabends vorstellen können, wenn er uns drei beim gemeinsamen Frühstück in der Küche sah? Iannis, mit der Nase in seiner Trinkschale, verschlangseine Schokolade in großen Schlucken, während Helena ihren Kaffee trank und die erste Zigarette des Tages zwischen ihren Fingern herunterbrannte. Kurz danach verabschiedete sie sich von uns und machte sich wieder an ihre Arbeit: Die Schriftstellerei nahm sie mit jedem Tag mehr in Beschlag, sie verbrachte immer mehr Zeit im Wohnzimmer, den Blick auf die Tastatur gerichtet, und wenn ich mich ins Zimmer verirrte, riss sie hastig das Blatt aus der Maschine, das sie gerade beschrieben hatte, und ließ es in ihrer Schreibtischschublade verschwinden.

 
    Am Strand erregte eine Veränderung in Iannis’ Verhalten meine Aufmerksamkeit. Er hatte aufgehört, Wasser umzufüllen, hatte seinen Eimer neben sich gestellt und betrachtete den

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