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Ein besonderer Junge

Ein besonderer Junge

Titel: Ein besonderer Junge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Finger, mit dem er Zeichen in den Sand malte, die ich nicht erkennen konnte und die regelmäßig von der Gischt weggewischt wurden. Verwundert legte ich mein Buch zur Seite und wollte zu ihm gehen. Ich hatte bemerkt, dass er sich immer häufiger im Garten hinter der Villa niederkniete und kleine Zweige aufsammelte, die er nach einer komplexen Ordnung zusammenlegte. Doch sobald ihm das Knirschen im Kies verriet, dass seine Mutter oder ich uns näherten, zerstreute er die Zweige wieder.
    Er wandte mir den Rücken zu, und da das Rauschen des Windes und die dicke Sandschicht meine Schritte erstickten, hörte er mich nicht. Ich beugte mich über seine Schulter: In ungeschickt gezogenen Blockbuchstaben erschienen ganze Wörter auf der nassen Oberfläche, die das Meer wegwischte, kaum dass sie zu Ende geschrieben waren. Die ständige Wiederholung der Aufgabe entmutigte Iannis inkeiner Weise, im Gegenteil, die Energie, mit der er ohne Unterlass seine Buchstaben in den Sand schrieb, legte den Gedanken nahe, es könne ihm gefallen, sie in den kleinen Wellen dahinschmelzen zu sehen. Kurzlebige Wörter folgten einander, alltägliche Worte, fehlerlos geschrieben, für einige Sekunden im Sand abgedruckt, bevor sie sich auflösten, bis hin zu meinem Vornamen, den sein Finger zu meiner noch größeren Verblüffung in den Sand zeichnete und der sogleich von der Gischt davongetragen wurde.
    Ich konnte einen Ausruf der Verwunderung nicht unterdrücken. Iannis schreckte hoch, warf sich herum, sprang auf die Beine und biss sich so heftig, dass Blut hervorquoll. Ich versuchte sofort, ihn in meine Arme zu schließen, doch er machte sich los, stieß dabei spitze Schreie aus, während seine Zähne tief in seinem Handrücken steckten. Ich musste dringend einen Weg finden, ihn zu beruhigen. Ich hatte ihn bei einer Beschäftigung überrascht, die er geheim halten wollte. Ich ging auf ihn zu und murmelte ihm genau das ins Ohr, was ihn, wie ich glaubte, beruhigen konnte: dass die Worte, die er in den Sand gemalt hatte, ebenso aus meinem Gedächtnis verschwinden würden, wie das Meer sie gelöscht hatte, und dass ich niemandem davon erzählen würde, nicht einmal Helena.
    Ich hatte instinktiv so gehandelt und lag damit offenbar genau richtig, denn Iannis’ Aufregung ließ nach. Mit noch immer leerem Blick entfernte er sich vom Uferstreifen und marschierte Richtung Strandkabine. Die Hand, mit der er sich über das Gesicht strich, hinterließ eine rote Blutspur.

 
    Jeder Tag brachte neue Überraschungen, doch die letzte war keine geringe. Helena hatte mir erklärt, an ihrem Sohn würden alle Versuche scheitern, ihm etwas beizubringen, und die Lehrer, die sich bemüht hätten, ihn Grundlagen zu lehren, hätten angesichts seiner Angst- oder Wutanfälle bald Abstand davon genommen. Doch Iannis hatte trotzdem gelernt, ich hatte jetzt den Beweis. Diese einsame und versteckte Leistung beeindruckte mich, doch sie musste geheim bleiben und besiegelte den stillschweigenden Pakt zwischen uns noch ein wenig mehr.
    An jenem Abend versuchte Helena erneut, getreu ihrem Versprechen   – oder soll ich sagen, ihrer Drohung   – mich in ihre Arme zu ziehen. Ich widersetzte mich entschiedener als am Vorabend, und nach einem wütenden Aufwallen brach sie plötzlich zusammen.
    »Was siehst du, wenn du mich ansiehst? Eine Amazone, entschlossen, einen jungen Mann in ihr Bett zu schleppen, um einer sexuellen Laune nachzugeben? Nein, Louis, du hast es einfach nur mit einer zerrütteten Frau zu tun. Dufindest diese Frau merkwürdig? Stell dir vor, ich auch! Doch diese merkwürdige Frau schlägt sich seit Jahren mit ein und derselben Frage herum: Wer von beiden, Mutter oder Sohn, hat den anderen zerrüttet?«
    Sie streckte mir ihre Hand entgegen.
    »Ich mache dir Angst? Du hast Angst vor einem armen Wesen, das sein Überleben allein den Beruhigungstropfen und einer hypothetischen Hoffnung auf eine Buchveröffentlichung verdankt? Einer Mutter, die ihre Zeit damit verbringt, sich einem Jungen auszusetzen, von dem sie nichts begreift, einer Ehefrau, deren Leben im diametralen Gegensatz zu dem ihres Mannes steht!«
    Der Ausdruck
armes Wesen
passte schlecht zum Bild von Helena, zur Härte ihres Gesichts und der Entschlossenheit, die sie immer wieder unter Beweis stellte. Doch ihre Stimme hatte eine so aufrichtige Färbung, dass es mir schwerfiel, ihr nicht zu glauben.
    »Lass mich, Louis, lass es einfach zu, ich bitte dich, rühr dich nicht, ich verlange nichts von dir, tue

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