Ein besonderer Junge
tiefe Traurigkeit in Helenas Augen.
Dank des Alkohols änderte sich ihre Stimmung, und gegen Ende des Abendessens wurde sie wieder fröhlich nach einem dieser Stimmungswechsel, zu denen sie, wie ich wusste, in der Lage war. Sie erzählte ihrem Mann von unseren Tagen am Strand, erwähnte die Anhänglichkeit, die Iannis mir gegenüber zeigte, und wie viel seltener seine Angstattacken in letzter Zeit geworden waren. Jérôme, der beim Trinken ebenso wenig Zurückhaltung an den Tag legte wie sie, leerte ein letztes Glas und schien sich einige Augenblicke für den Bericht seiner Frau zu interessieren, konnte dann aber ein Gähnen nicht mehr unterdrücken. Er streckte sich, dann tat er kund, wie leid es ihm täte, so müde zu sein. In schlüpfrigem Ton erinnerte er Helena daran, dass sie sich schon eine Weile nicht mehr gesehen hätten und es Zeit für sie sei, nach oben ins Bett zu gehen. Er entschuldigte sich, und Helena erwiderte, sie würde ihm unverzüglich folgen.
Kaum hatte er uns den Rücken zugewandt, brachte sie, auf die Ellbogen gestützt, ihr Gesicht ganz nah an meines.
»Mein Mann verschafft mir schon seit langem keine Lust mehr, aber heute Abend wird es ihm gelingen, und weißt du, warum? Weil ich nicht mit ihm schlafen werde, sondern mit dir. Die Wände sind dünn, und wenn du mich stöhnen hörst,wirst du wissen, dass ich meine Lust auskoste und dabei an dich denke, nur an dich.«
Wieder war ich Gegenstand eines Experiments und versuchte, mich dagegen aufzulehnen, indem ich Helena sagte, wie pervers ihre Vorstellungen in meinen Augen seien.
»Das kenne ich ja bereits von dir, ganz wie es sich gehört! Denk, was du willst, es ist mir egal. Es kommt nicht darauf an, dass ich an dich denke – beim Beischlaf kann schließlich jeder denken, an wen er will –, sondern darauf, dass du es weißt …, und dass ich weiß, dass du es weißt! Wie dem auch sei, ob du willst oder nicht, wenn du mich hörst, werde ich in deinen Armen sein.«
Sie stand vom Tisch auf.
»Gute Nacht, Louis, ich freue mich schon jetzt auf die Lust, die Sie mir verschaffen werden.«
Als ich im Dunkeln lag, konnte ich nicht umhin, auf die Geräusche im Haus zu lauschen. Kurz nachdem ich mich in mein Zimmer zurückgezogen hatte, drangen gedämpft durch die Wand wirre Gesprächsfetzen zu mir. Vorwurfsvoll und energisch bäumte sich Helenas Stimme gegen die ihres Mannes auf, und ich dachte, es ginge um die Nachricht, die Jérôme angekündigt hatte, die ihr Gespräch vergiftete. Dann herrschte Stille im Haus.
Ich hoffte, Schlaf zu finden, doch in dem Augenblick, als meine Gedanken langsam in einen Traum übergingen, erklang eine dumpfe Klage, die immer lauter wurde, bis sie die Lautstärke eines Schreis hatte, der sich über den Flur in meinem Zimmer ausbreitete. Die Stimme kam mir unglaublich nahe vor: Helena stöhnte in mein Ohr und presste sich dabei an mich. Sie hielt ihr Versprechen; genau in diesem Moment, als sie in Jérômes Armen lag, dachte sie an mich, war ich es, der ihr dieses Vergnügen bereitete. Der Schrei dauerte an, schlüpfte unter meine Bettdecke, ohne dass ich ihn von mir stoßen konnte. Ich gehörte mir nicht mehr, ichwar das Objekt von Helena geworden, die mich nach Lust und Laune benutzte, und sie musste mich dazu nicht einmal berühren.
Ich wäre ihr gerne entkommen; aber meine Hände auf den Ohren genügten nicht, ich griff auf gut Glück nach einem der Bücher auf meinem Nachttisch, doch die Lektüre von
Eine Saison in der Hölle
konnte mich nicht von der Stimme ablenken, die mich bestürmte. Mit einem Sprung war ich aus dem Bett und eilte in Iannis’ Zimmer, um mich vor dieser Belagerung in Sicherheit zu bringen. Als ich die Tür hinter mir schloss, rückte der Schrei in weite Ferne, als ob Helena es sich nicht erlauben könnte, die Schwelle zum Zimmer ihres Sohnes zu überschreiten. Beklemmung, diese gegenstandslose Angst, pochte in meinen Schläfen: Helena ergriff Besitz von mir, und die Erinnerungen an Horville, die Iannis geweckt hatte, bedrängten mich, ohne dass ich etwas entgegensetzen konnte. Ich saß da und wiegte mich, fast hätte ich mir in die Hand gebissen, damit ich einen Schmerz spürte, dessen Herr ich wäre.
In den Anblick des schlafenden Iannis vertieft, dachte ich, ihn zu spüren, sei das Einzige, was mich erleichtern könnte, und ohne weiter nachzudenken, legte ich mich neben ihn. Wie am ersten Abend öffnete er die Augen; mit großen Augen und klarem Blick sah er durch mich
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