Ein besonderer Junge
sehr vermessen,mein armer Junge, wenn Sie meinten, er handele von Ihnen, von Ihnen allein!«
Das bebende Mädchen aus dieser Nacht war wie weggeblasen.
Mein armer Junge
: Helena hatte zum schneidenden Ton der großen Auftritte zurückgefunden. Sie kam auf mich zu, riss mir den Text aus den Händen und zerriss ihn, dann öffnete sie die Schreibtischschublade und nahm den Stapel Blätter an sich.
»Es bleiben nur noch wenige Stunden bis zur Abreise, wir sehen uns beim Frühstück.«
Mit ihrer Arbeit unter dem Arm ging sie die Treppe hinauf zurück in ihr Zimmer und warf die Tür hinter sich zu.
Nie habe ich Iannis so ruhig erlebt. Niedergeschlagen steht er in seinem Zimmer an der Wand und sieht uns zu, wie wir seine Sachen in eine Tasche packen. Helena reicht mir Hemden, Hosen und Pullover, ohne ein Wort an mich zu richten. Seit der Szene heute Nacht tun wir so, als seien wir Luft füreinander, und beim Frühstück hat eine eisige Atmosphäre geherrscht. Sie hat sich aufgeregt, weil Iannis sich zum ersten Mal weigerte, irgendetwas zu sich zu nehmen, trotzdem hat sie ihren Sohn mit zärtlichen Gesten umsorgt, und jedes Mal, wenn sie seine Wange streichelte, wurden ihre Augen feucht. In meiner Gegenwart fand sie den Mut, ihm zu erklären, was kommen würde, und sie benutzte meine Worte dazu.
Iannis folgt uns wie ein Roboter, als wir mit gepacktem Koffer die Treppe hinabsteigen und die Tür der Villa hinter uns schließen. Grauer denn je fließt das Meer in den Himmel, ich würde gerne zum Strand hinuntergehen, um eine letzte Handvoll meiner Kindheitsschätze mitzunehmen, doch die Zeit drängt: Ich muss Iannis wegbringen und keinen Vorratan Lunten und Salzstreuern aus Horville. Wir nehmen die Straße parallel zu den Tennisplätzen und biegen in die Straße ab, die unter der Holzbrücke hindurchführt, die das Winterquartier der Segelboote überspannt. Dort wartet der 2CV auf uns, seine graue Karosserie im farblichen Einklang mit den dicken Wolken über dem Badeort. Helena und Iannis setzen sich auf die Rückbank, ich nehme hinter dem Lenkrad Platz. Wir fahren durch die noch taunasse Landschaft und an den spitzen Kirchtürmen der Basilika La Délivrande vorbei, dann biegen wir auf die lange gerade Strecke ein, die uns direkt zum Bahnhof von Caen bringt.
Wir stellen den Wagen auf dem Parkplatz ab und gehen zum Bahnsteig, wo sich eine kleine Gruppe Reisender drängt. Gleichgültig gegenüber dem Gedrängel folgt uns Iannis bis zum Zug, ohne die geringste Gefühlsregung zu zeigen. Helena hilft uns, ein Abteil zu beziehen, in dem wir nebeneinandersitzen, der Junge am Fensterplatz. Ich hole den Zündschlüssel aus der Tasche und spreche Helena zum ersten Mal an diesem Morgen an mit der Frage, ob sie mit meinem 2CV in die Villa zurückfahren wolle.
»Nein danke, Louis, vor dem Bahnhof stehen Taxis.«
Und mit einem halben Lächeln fügt sie hinzu:
»Aus dem Alter, in dem man ein solches Fahrzeug steuert, bin ich leider schon raus. Das ist etwas für junge Leute! Sie können es nach der Zugfahrt abholen, wenn Sie zurückkommen.«
Sie sieht mich eindringlich an:
»Sie müssen dann nicht noch einmal nach Horville zurückkommen.«
Kein anderer Reisender setzt sich zu uns ins Abteil. Sich über mich beugend, fasst Helena das Gesicht ihres Sohnes mit beiden Händen, um ihn lange zu küssen, dann löst sie sich von ihm, indem sie ein letztes Mal über seine Wange streichelt. Iannis presst seine Stirn gegen die Scheibe und vertieft sich in den Anblick des beschlagenen Kreises, den sein Atem dort hinterlässt. Ohne dass ich einen Blick mit ihr wechseln kann, steigt Helena aus dem Waggon und entfernt sich. Sie dreht sich nicht um: Ihr gerader Rücken, ihr mit der Spange gehaltenes Haar, ihr entblößter Nacken, ihre verkrampften Schultern, die gegen einen endlosen Schmerz zu kämpfen scheinen, sind das letzte Bild, das ich von ihr habe.
In blauen Sommernächten werde ich durch Felder gehen,
Von Halmen gestochen das dünne Gras niedertreten:
Träumend werde ich die Frische an meinen Füßen spüren.
Ich werde meinen unbedeckten Kopf in den Wind halten.
Ich werde nicht sprechen und an nichts denken …
ARTHUR RIMBAUD
Schon seit einer Stunde fährt der Zug über Land. Iannis hat sich nicht bewegt und presst noch immer die Stirn gegen die Scheibe. Er hat weder auf die Abschiedsküsse seiner Mutter noch auf den Pfiff reagiert, der die Abfahrt des Zuges ankündigte, auch das Rumpeln der Waggons bei der Fahrt
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