Ein bissfestes Abenteuer
Taumelnd flog sie einmal um den höchsten Turm herum. Er verschwand nicht. Dafür schwanden Silvanias Kräfte immer mehr. Ihr wurde auf einmal klar, dass sie es nicht mehr bis zur Reihenhaussiedlung schaffen würde.
Wieder hörte sie das Gurren dicht hinter sich. Sie konnte nicht mehr. Ihr Körper schmerzte an allen Stellen. In ihrem Kopf hämmerte es, als würde eine Taube darin herumpicken. Sollte sie so enden: Neben der Ritterstatue auf dem höchsten Rathausturm von Bindburg, malträtiert von Tauben?
Plötzlich wusste Silvania, wer ihre Rettung war: Helene! Sie wohnte gleich ums Eck in einer Nebenstraße. Silvania nahm ihre letzte Kraft zusammen und flog taumelnd zu Helenes Haus. Bis aufs Äußerste erschöpft ließ sie sich aufs Fensterbrett fallen und schlug mit dem Kopf gegen die Scheibe.
Zum Glück war der dumpfe Schlag laut genug, dass Helene ihn hörte. Nach ein paar Sekunden ging ein kleines Licht im Zimmer an. Helene starrte Silvania mit großen Augen durch die Fensterscheibe an. Dann öffnete sie mit einem Ruck das Fenster und Silvania purzelte ins Zimmer auf den Fußboden.
»Silvania! Was machst du mitten in der Nacht hier?« Helene hatte sich neben ihre Freundin gekniet und betrachtete sie beunruhigt.
Silvanias Augen fielen vor Erschöpfung immer wieder zu und sie nuschelte: »Die Tau... Tau... Tauben!«
Helene sah sie verstört an. »Was?«
»Die Tauben! Mach das Fenster zu!«
Helene ging zum Fenster und beugte sich hinaus. »Was für Tauben?« Silvania antwortete nicht. Helene zuckte die Schultern und schloss das Fenster. Dann hockte sie sich neben ihre Freundin, die die Augen geschlossen hatte und schwer atmete. »Was ist passiert? Und wieso hast du Klopapier um den Kopf?«
Doch Silvania regte sich nicht mehr. Als Antwort kam nur ein leises Pfff aus ihrer Nase. Zum ersten Mal seit ihrem Umzug nach Deutschland war Silvania ohne Probleme mitten in der Nacht in einen tiefen Schlaf gesunken.
Spurlos
verschwunden
D er Wecker am Ofen in der Küche zeigte 5:31 Uhr. Frau Tepes fuhr sich mit der flachen Hand über den Hals und seufzte laut. Unter ihren nachtblauen Augen lagen dunkle Ringe. Ihre Frisur war zerzaust, so oft war sie sich in den letzten Stunden mit beiden Händen verzweifelt durch die Haare gefahren.
Sie trank einen Schluck Wasser und sah aus dem Küchenfenster. Draußen wurde es bereits hell. Mihai musste jeden Moment zurückkommen. Hoffentlich nicht allein. Oder zumindest mit guten Nachrichten. Frau Tepes tigerte durch die Wohnung. Sie lief vom Wohnzimmer ins Bad, in die Küche und wieder zurück. Sie setzte Kaffee auf, schaltete den Fernseher ein und schaltete ihn wieder aus. Sie konnte nicht mehr ruhig sitzen, obwohl sie hundemüde war. Die ganze Nacht hatte sie kein Auge zugetan. Wie konnte sie, wenn ihre beiden Töchter auf einmal verschwunden waren!
Als es Mitternacht geschlagen hatte und Silvania und Daka noch immer nicht zu Hause waren, wollte Elvira Tepes die Polizei rufen. Doch Mihai hatte sie davon abgehalten. Was, wenn die Zwillinge nur einen Ausflug machten? Schließlich war es für Halbvampire nicht so ungewöhnlich, eine Nacht im Freien zu verbringen. Elvira musste ihrem Mann recht geben. Sie konnten der Polizei schlecht sagen, dass sie zwei Teenager suchten, die wahrscheinlich irgendwo durch die Luft flogen. Also hatte sich MIhai Tepes selbst auf die Suche gemacht.
Elvira Tepes goss sich gerade eine Tasse Kaffee ein, als sich die Wohnungstür öffnete. Herr Tepes trat mit der Morgenzeitung unter dem Arm ins Haus. Er wirkte erschöpft und durchgefroren. Seine Nase war rot und sein Lakritzschnauzer kringelte sich von der feuchten Morgenluft noch mehr als sonst. Seine pechschwarzen Haare hatte der Flugwind steil nach hinten geweht.
»Und?« Frau Tepes stand mit der Kaffeetasse in der Hand auf dem Flur und sah ihren Mann mit weit aufgerissenen Augen an.
Mihai Tepes seufzte und schüttelte den Kopf. Er ging in die Küche, legte die Morgenzeitung auf den Tisch und nahm sich ebenfalls einen Kaffee. Er holte eine kleine Ampulle aus der Manteltasche und spritzte einen Schuss Blut in den Kaffee. Dann nahm er einen großen Schluck und schloss einen Moment die Augen.
»Erzähl doch! Wo bist du gewesen?« Elvira war ihrem Mann in die Küche gefolgt.
Herr Tepes nahm noch einen Schluck Kaffee und begann mit rauer, tiefer Stimme zu erzählen: »Ich habe die ganze Reihenhaussiedlung abgesucht, die angrenzenden Felder und das Wäldchen. Nichts. Noch nicht mal eine Fledermaus.
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