Ein bissfestes Abenteuer
Dann bin ich Richtung Süden geflogen, an ihrer Schule vorbei.«
Elvira Tepes zog die Augenbrauen hoch.
»Ich weiß, es ist sehr unwahrscheinlich, dass sie dorthin freiwillig nachts einen Ausflug machen. Aber ich wollte nichts unversucht lassen – wer kennt sich schon in den Köpfen von zwei zwölfjährigen Halbvampiren aus?«
Frau Tepes nickte niedergeschlagen.
»Aber auch da: nichts. Schließlich bin ich die gesamte Stadt abgeflogen. Ich habe geschaut, ob sie in Bäumen abhängen oder auf Dächern sitzen. Ich bin durch die U-Bahn-Schächte geflogen. Nichts. Nicimo! Keine Spur. Auf dem Rückweg bin ich noch über das Haus deiner Eltern geflogen. Auch da: nicimo.« Herr Tepes bemerkte die dunklen Augenringe seiner Frau und strich ihr über den Arm.
»Ich habe bei meinen Eltern angerufen«, sagte Frau Tepes leise. »Stell dir vor, Oma Rose ist heute auch nicht nach Hause gekommen.«
Herr Tepes runzelte die Stirn. Wenn zwei Halbvampire nachts nicht nach Hause kamen, war das eine Sache. Aber wenn eine über 60-jährige Dame nachts nicht nach Hause kam, dann war etwas faul. Oberrattenfaul. Zumindest war es sehr unwahrscheinlich, dass Rose Wagenzink auf ihre alten Tage zur Partymaus mutiert war und sich mit ihren Enkeltöchtern in den Szeneklubs von Bindburg die Nacht um die Ohren schlug.
Mihai Tepes überlegte einen Moment, ob er seinem Bruder Vlad in Transsilvanien Bescheid sagen sollte. Doch der würde mit Sicherheit sofort seine blutrote Garde zusammentrommeln oder womöglich sogar Vampol, die internationale Polizeiorganisation der Vampire, einschalten. Sollte deren Einsatzkommando in der Reihenhaussiedlung in Bindburg auftauchen, würde Elvira in Ohnmacht fallen. Nein, es war besser, den Tag abzuwarten.
»Opa Gustav war völlig am Ende mit den Nerven. Trotzdem wollte er nicht zu uns kommen. Er wollte lieber zu Hause warten«, erzählte Frau Tepes. »Er hat im Kunstpalais angerufen, dort ging sofort der Anrufbeantworter an. Er wollte sich auf den Weg zur Polizei machen, aber ich habe ihn gebeten zu warten, bis du von deiner Suche zurück bist.«
Herr Tepes stellte die Kaffeetasse auf der Morgenzeitung ab und fuhr sich mit der flachen Hand über das Gesicht. Im kühlen Morgenlicht wirkten seine Augen noch dunkler und seine Haut noch blasser. »Wo stecken sie nur?«
»Vielleicht hätten wir nicht so streng mit ihnen sein sollen wegen der Sache mit dem Klobrillenflug«, sagte Frau Tepes.
»Du meinst, sie sind vielleicht deswegen abgehauen?«
Frau Tepes zuckte die Schultern. »Immerhin habe ich sie 250 Klobrillen putzen lassen.«
Herr Tepes fuhr sich nachdenklich über den Lakritzschnauzer. »Wieso ist Oma Rose dann auch verschwunden? Aus Solidarität?« Herr Tepes hob die Tasse hoch und nahm einen weiteren Schluck Kaffee. Dabei fiel sein Blick auf den kleinen Zeitungsartikel, auf dem die Tasse gestanden und um den sie einen feuchten Kaffeering gebildet hatte. Er überflog den Artikel, verschluckte sich und prustete vor Schreck los. Lauter kleine Kaffeespritzer landeten auf der Morgenzeitung.
»Was ist los?«, rief Elvira und klopfte ihrem Mann fürsorglich auf den Rücken.
Herr Tepes deutete auf die Zeitung. »Sieh dir das an!«
Elvira Tepes beugte sich zusammen mit ihrem Mann über die braun gesprenkelte Morgenzeitung und las:
KÜHNER KUNSTRAUB IM KUNSTPALAIS
Wie kurz vor Redaktionsschluss gemeldet wurde, fand gestern Nacht einer der spektakulärsten Kunstraube aller Zeiten statt. Laut Polizei wurde mit einer noch nie gesehenen Unverfrorenheit das wertvollste Stück der aktuellen Sonderausstellung zur japanischen Kunst der Edo-Periode gestohlen. Es handelt sich dabei um einen etwa 200 Jahre alten Fächer, der laut Expertenmeinung über drei Millionen Euro wert ist.
Dank eines aufmerksamen Mitarbeiters des Sicherheitsdienstes, der den Kunstraub auf der Videoüberwachung verfolgte und die Polizei alarmierte, gelang es der Polizei, die Kunsträuber an Ort und Stelle festzunehmen. Mit Klopapier verhüllten Gesichtern hatten sie versucht zu fliehen. Oberkommissar Hölzel zufolge sind die Kunsträuber langjährige Mitarbeiter des Kunstpalais. Dem 54-jährigen Alfons S. wird bis jetzt nur Mittäterschaft vorgeworfen, während die 62-jährige Rose W. als eindeutig überführt gilt. Laut Hölzel hatte die Kunstdiebin ›unverschämt provokant mit dem Diebesgut in die Kamera der Videoüberwachung gewinkt‹.
Einzig unklar ist der Polizei, wo die Kunsträuber den wertvollen Fächer vor ihrer Festnahme deponiert
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