Ein bissfestes Abenteuer
nicht beeindrucken.
Silvania hielt es nicht mehr aus. Sie griff mit der rechten Hand nach dem dreisten blinden Passagier und ...
... hatte ein Stück Klopapier in der Hand.
Erst jetzt fiel ihr ein, dass sie sich das Papier vor dem Losfliegen nicht vom Kopf gerissen hatte. Sie versuchte, sich den Rest des Klopapiers vom Kopf zu zerren, doch es wollte sich nicht lösen. Schließlich gab sie es auf. Es war ja egal, wie sie gerade aussah. In 200 Metern Höhe würde sie bestimmt nicht ihrem Traumjungen begegnen. Solange ihr das Klopapier nicht wieder vor die Augen rutschte, konnte es bleiben, wo es war.
Silvania breitete die Arme wieder aus und sah nach unten auf die Autobahn. DIE AUTOBAHN?! Wo war die Autobahn? Die Autobahn war weg. WEG! Einfach so. Etliche Kilometer Beton mit zahlreichen Autos darauf. Verschwunden.
Hektisch ließ Silvania ihren Blick über die Landschaft unter sich gleiten. Es gab ein paar kleine, spärlich beleuchtete Straßen, die von hohen Bäumen und dunklen Dächern gesäumt waren. Auf der Straße parkten Autos Stoßstange an Stoßstange. Es sah aus wie ein Wohngebiet. Aber es kam Silvania nicht bekannt vor.
Silvania flog ein Stück nach rechts. Die Häuser wurden höher und hatten Flachdächer. Silvania flog ein Stück nach links. Die Häuser wurden flacher, dafür größer. Sie sahen aus wie Hallen. Zwischen zwei Hallen lag ein Sportplatz. Aber keine Autobahn.
»Fumpfs!« Silvania stöhnte. Sie hatte sich verflogen. Sie drehte eine Runde über dem Wohnviertel. Was jetzt? Sollte sie einfach geradeaus weiterfliegen? Aber wo war geradeaus? Vielleicht war geradeaus jetzt rückwärts? Wie konnte sie wissen, ob sie noch in Richtung Stadt flog? Während des Klopapier-Zwischenfalls hatte sie sich ein paarmal gedreht. Alles war durcheinandergeraten. Vorn war hinten, rechts war links, oder umgekehrt. Nur oben und unten waren gleich geblieben. Immerhin.
Silvania kniff die Augen zusammen und suchte den Horizont nach Anhaltspunkten ab. Ihr kam es so vor, als ob es links von ihr heller wurde als in den anderen Richtungen. War da nicht auch ein Turm zu sehen? Der Rathausturm mit der Ritterstatue! Das musste er sein. Dann war dort auch die Innenstadt. Von dort aus fand Silvania bestimmt nach Hause in die Reihenhaussiedlung.
Mit einem tiefen Atemzug sammelte Silvania neue Kräfte. Dann flog sie los, den Turm fest im Blick. Die Arme schmerzten wie nach 100 Liegestützen, der Nacken wurde langsam steif, und der Nachtwind trieb ihr die Tränen in die Augen. Der Turm verschwamm ein wenig, aber sie hielt Kurs. Gleich hatte sie es geschafft! Sie würde sich nur kurz auf der Turmspitze ausruhen und dann schnell das letzte Stück in die Reihenhaussiedlung fliegen.
Silvania steuerte direkt auf die Turmspitze zu. Sie konnte schon die grauen Dachziegel erkennen. Grau? Hatte das Rathaus nicht rote Ziegel? Silvania blinzelte sich die Tränen aus den Augen und sah an der Turmspitze hinab. Das war überhaupt nicht das Rathaus! Vor Schreck wäre Silvania beinahe mitten auf die Turmspitze geknallt. Sie wich in letzter Sekunde mit einem Schrei aus.
Der Schrei wurde mit einem vielstimmigen Gurr, Gurr beantwortet.
Silvania stockte schlagartig das Blut in den Adern. TAUBEN! Der Feind der Lüfte Nummer eins! Die fiesesten Vögel überhaupt!
Silvania überlegte nicht lange. Sie folgte ihren Instinkten, presste das Kinn auf die Brust, legte die Arme an und schoss im Turbogang durch die Nacht davon. Wohin, war ihr egal. Hauptsache weg von den Tauben.
Gurr, gurr hörte sie hinter sich.
Die Tauben hatten die Verfolgung aufgenommen! Silvania wusste: Wenn man einmal in einen Taubenschwarm geriet, kam man nicht so schnell wieder heraus. Und auf keinen Fall ungeschoren. Sie und ihre Schwester hatten in ihrer Kindheit einen sehr unangenehmen Taubenzwischenfall erlebt und seitdem ein Taubentrauma. Sie fürchteten Tauben wie andere Leute Spinnen oder Schlangen.
Silvania war am Ende ihrer Kräfte, aber sie durfte jetzt nicht langsamer werden. Schweißtropfen rannen ihr über die Stirn. Ihre Arme zitterten. Ihr Hals war trocken. Durch ihren Rücken zog sich ein stechender Schmerz. Nur mit Mühe konnte sie noch die Augen offen halten.
Vor ihr tauchten verschwommen die Lichter der Innenstadt auf. Oder träumte sie das nur? Vielleicht war es nur eine Fata Morgana, mitten in der Nacht in einer deutschen Großstadt. Silvania hatte keine andere Wahl. Sie steuerte auf das Gebäude in der Mitte zu. Immerhin hatte es rote Dachziegel.
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