Ein bretonisches Erbe
schloss das Atelier wieder ab und ging zurück ins Haus, wo sie begann in der Bibliothek die Papiere ihres Großvaters zu sortieren und Mappen für die wahllos aufgehäuften Skizzen anzulegen. Damit verbrachte sie fast den ganzen Tag und war nach einem kurzen Spaziergang mit dem Hund, bei dem sie der Wind ordentlich durchgepustet hatte, ziemlich müde.
Im Wintergarten warf sie noch einen Blick auf ihre fast jungfräuliche Leinwand mit der Horizontlinie, konnte sich aber nicht zu einem Motiv entschließen. Der graue Himmel und das wildtobende Meer verdüsterten die Stimmung und so nahm sie lediglich ein Stück Zeichenkohle und skizzierte versuchsweise ein paar Umrisse, mit denen sie aber nicht wirklich zufrieden war.
Nach einem kleinen Abendimbiss kroch sie früh ins Bett, um noch ein bisschen in den Islandfischern zu lesen, wo sich nun doch eine Hochzeit zwischen Gaud und Yann abzeichnete, was sie sehr freute, da sie inzwischen doch regelrecht mit Gaud mit fieberte.
Sie hatte am Morgen das Medaillon wieder angelegt, denn inzwischen war es für sie wie ein Talisman geworden, und sie schrieb ihm unbewusst die Fähigkeit zu, Unheil von ihr abzuwehren.
Doch als sie so im Bett lag, das kleine Schmuckstück in der Hand und auf Wind und Wellen lauschte, da fragte sie sich plötzlich, ob ihre gesteigerte Sensibilität und die seltsamen Dinge, die sie in den letzten Tagen wahrzunehmen glaubte, nicht vielleicht mit dem Medaillon zusammen hingen? Aber war es denn überhaupt möglich, dass Gegenstände, die Fantasie eines Menschen so beeinflussen konnten?
Viele Jahre hatte sie ihre Ferien in Le Ro verbracht und immer war alles schön und harmonisch und vor allem verständlich gewesen. Nie hatte sie merkwürdige Erscheinungen gehabt, oder klagende Rufe vom Meer gehört.
Warum war in diesem Jahr alles so anders?
Irgendetwas Beunruhigendes ging vom Meer aus und seit sie am Abend ihrer Ankunft dieses Medaillon am Strand gefunden hatte, war es, als spräche es zu ihr. Als wollte es ihr eine Geschichte erzählen, die nur sie verstehen konnte.
Manchmal glaubte sie, die Wellen hätten das Schmuckstück nur aus dem Sand gewaschen, damit sie es fand und damit endlich diese Geschichte entdeckte, die sich dahinter verbarg.
Yuna schaltete die Nachttischlampe ein und nahm die Kette vom Hals. Sie betrachtete den Anhänger und überlegte, wie er sich wohl öffnen ließe. Zu gerne hätte sie gewusst, was in seinem Inneren verborgen war. Wenn das Medaillon einem Mädchen gehört hatte, so war vielleicht ein Foto ihres Freundes darin, hatte es am Hals einer jungen Mutter gehangen, möglicherweise die Locke eines Babys…
Leider widersetzte es sich immer noch beharrlich jedem ihrer Versuche, es zu öffnen und auch heute ließ sich ihre Neugier somit nicht mehr befriedigen. Also legte sie die Kette mit dem Medaillon auf den Nachttisch, löschte das Licht wieder und versuchte erneut einzuschlafen.
Aber das Brausen des Sturms hielt sie wach und so gingen ihr die merkwürdigen Ereignisse der letzten Tage noch einmal durch den Kopf.
Sehr verzwickt das alles, dachte sie und fühlte sich ein wenig hilflos. Zu viele Fragen und zu wenig plausible Antworten! Frustriert schlief sie schließlich doch ein.
Irgendwann in der Nacht wachte sie auf.
War es die Stille, die sie geweckt hatte oder die Kälte?
Vielleicht beides.
Das Brausen des Sturmes hatte aufgehört und über der Bucht lag im fahlen Licht des halben Mondes wieder eine dicke weißliche Nebelschicht, doch heute kam sie ihr vor wie ein riesiges Leichentuch.
Sie fröstelte und ihre Füße fühlten sich eiskalt an. Als sie zu ihnen hinunter sah, stockte ihr der Atem, denn sie starrte in einen Abgrund. Erst einige Augenblicke später wurde ihr bewusst, dass sie auf ihrem kleinen Balkon stand, unter sich nichts als gespenstisches Schweigen und das schwarze Wasser, das eine Reihe gefährlicher Felszacken umspielte.
Nein! Dachte sie entsetzt. Das konnte nicht sein! Das war nur ein böser Traum. Minutenlang war sie unfähig auch nur ein Glied zu rühren.
Sie begriff nicht, wieso sie mitten in der Nacht hier auf ihrem Balkon stand, statt im Bett zu liegen? Sie war doch nicht etwa im Schlaf gewandelt?
Der bloße Gedanke beunruhigte sie zutiefst, denn sie hatte von Menschen gehört, die im Schlaf auf Dachfirsten spazieren gegangen waren, als man sie anrief hinunterstürzten und sich das Genick brachen.
Nicht, dass sie glaubte, ihr könnte nun Ähnliches geschehen, aber beunruhigend war es
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