Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein bretonisches Erbe

Ein bretonisches Erbe

Titel: Ein bretonisches Erbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Valerie Menton
Vom Netzwerk:
schon, dass sie sich nicht erinnern konnte, wie sie auf den Balkon gelangt war. So etwas war ihr noch nie passiert. Daher fragte sie sich bestürzt, was ihr Seelenleben derart durcheinander gebracht hatte, dass sie so die Kontrolle über ihr Bewusstsein verlieren konnte und unbewusst Dinge tat, ohne es zu merken, geschweige denn zu wissen, warum sie diese tat?
    Was wollte sie hier in dieser schaurigen Nacht auf dem Balkon über der Klippe? Was hatte sie aus ihrem warmen, sicheren Bett hierher gelockt?
    Feuchte Kälte drang durch ihr dünnes Nachthemd als der Nebel sich hob, mit langen gespensterhaften Armen auf das Festland übergriff und sie streifte. Sie schauderte. Ihre Beine befiel ein unkontrolliertes Beben und so sehr sie sich auch bemühte, sie bekam es nicht unter Kontrolle, denn sonst hätte sie sich umgedreht und wäre sofort ins Zimmer zurückgestürzt.
    Dennoch, sie durfte hier nicht länger stehen bleiben. Die Brüstung war nicht sehr hoch und wenn sie sich ungeschickt darüber lehnte, konnte sie das Gleichgewicht verlieren und in den Abgrund stürzen.
    Ihr Blick wurde nun wie magisch vom Halbmond angezogen, der tief über der Bucht stand. Sein kaltes, weißes Licht verwandelte sich auf dem Weg zu ihr in die klagenden Töne des Chorals von Plouguerneau und als sie nach unten schaute, entstiegen dem Felsgewirr, welches schwarz zu ihren Füßen lag, seltsame Gestalten. Erst schemenhaft und verschwommen, schließlich waren sie deutlicher zu sehen. Zunächst tauchten sie einzeln auf, dann immer mehr in schnellerer Abfolge. Sie wirkten, als wären sie einem alten, verwitterten Fresko entsprungen, an dem überall die Farbe abblätterte. Mehrere Dutzend. Ein wilder, wahnsinniger Reigen. Edelleute, Mägde, Bauern und Fischer, Männer und Frauen, Kinder und Greise, Arm und Reich… ein endloser Zug, der sich auf das offene Meer hinaus bewegte, angeführt von Ankou , dem düsteren Sensenmann, dem Tod.
    Sich selbst zwischen Leben und Tod fühlend, stand Yuna wie versteinert auf dem Balkon und starrte auf das irrsinnige Schauspiel, das sich ihrem ungläubigen Blick darbot.
    Endlich erreichte der schaurige Totentanz unter den quälenden Klängen dudelsackartiger Musik die Nebelbank in der Bucht und tauchte darin ein.
    Nur ein junger Mann und eine junge Frau, die sich fest an den Händen hielten und ganz am Ende gegangen waren, schienen einen Moment zu zögern. Yuna sah sie plötzlich wie durch ein Fernglas betrachtet, groß und deutlich. Der junge Mann hatte eine frappierende Ähnlichkeit mit ihrem Vater in jungen Jahren. Am Hals des Mädchens aber blinkte ein kleines glänzendes Schmuckstück auf – Yunas Fundstück, das geheimnisvolle Medaillon!
    Sekunden später waren sie beide verschwunden.
    Die Geistermusik brach ab und eine Stille, die in den Ohren schmerzte, floss wie geschmolzenes Blei aus der Nebelwand. Es war, als hätte der Nebel alles Lebendige aufgesogen. Die ganze Schar, die da eben noch mit dem Tod ein Tänzchen gewagt hatte, die Musikanten und auch alle Töne und Geräusche.
    Nichts blieb zurück als bleierne Stille. Todeskalt.
    Eine Wolke schob sich vor den Mond und verdunkelte ihn für einen Augenblick. Und so als wäre ein Bann gebrochen, kehrte plötzlich das Blut in Yunas Adern zurück und sie trat mit einer verzweifelten Bewegung nach hinten, stieß die Tür zu ihren Zimmer auf und stürzte hinein. Mit fliegenden Händen, schloss sie die Balkontür und legte den Riegel vor. Sie ließ sich auf ihr Bett fallen und schluchzte erschüttert auf. Noch saß ihr der Schock in allen Gliedern, dann aber liefen ihr Tränen der Erleichterung über das Gesicht. Sie war in Sicherheit.

    Am nächsten Morgen wusste Yuna allerdings nicht mehr zu sagen, ob das Erlebnis der letzten Nacht Wirklichkeit oder nur ein besonders lebhafter Traum gewesen war. Und noch immer konnte sie nicht glauben, dass sie wirklich schlafwandelnd auf den Balkon hinausgegangen war und sich in Todesgefahr gebracht hatte. War das nicht besorgniserregend? Vielleicht sollte sie mal einen Psychiater ihres Vertrauens hinzuziehen, wenn ihr Arztanwärter Julien ebenfalls keine vernünftige Erklärung parat hatte.
    Sie ging noch immer verwirrt ins Bad, nahm erst einmal eine Dusche, und wusch sich die Haare, damit es wenigstens auf ihrem Kopf ordentlich aussah, wenn schon innen drin das Chaos herrschte. Danach beschloss sie ihre Mutter anzurufen und ihr alles zu erzählen. Sie war ein rationaler, kluger Mensch, der gewiss die Dinge richtig

Weitere Kostenlose Bücher