Ein bretonisches Erbe
etwas einfallen, was ihr Nervenkostüm wieder in Ordnung brachte und die Idee mit dem Schlafgast, der auf sie aufpasste, sollte doch realisierbar sein. Jedenfalls wüsste sie schon jemanden, der gewiss gerne diese Aufgabe übernehmen würde.
Sie wollte diesem Jemand gerade eine SMS schicken, als ihr Handy klingelte und sie Julien schon in der Leitung hatte.
„Ich wollte mich nur zurückmelden und fragen, wie es dir geht?“
„Gut, hast du Lust eine kleine Spritztour mit dem Auto zu machen? Für den Strand ist heute kein Wetter.“
„Aber immer!“, stimmte Julien ihrem Vorschlag sofort zu. „Ich hatte übrigens gerade die gleiche Idee.“
„Fein“, freute sich Yuna, „ich würde gerne mal ein bisschen bretonische Kultur schnuppern, ein paar Megalithen ansehen und in einem Landgasthaus etwas Leckeres essen, halt mal so richtig hier ankommen.“
„Warum nicht“, sagte Julien, „bei sowas bin ich immer dabei“
Also war der Ausflug verabredet und Yuna war optimistisch, dass sich während der Fahrt sicherlich auch die Gelegenheit ergeben würde, über das Thema Bettgemeinschaft zu reden. Sie schlief in der Tat viel besser, wenn Julien bei ihr war und ein so großes Bett für einen allein, das wäre doch wirklich Verschwendung!
Yuna steuerte den Geländewagen zur Schnellstraße, die in Richtung Morlaix führte. Bald erreichten sie einen in der Heide verborgenen Dolmen, und eine mit Efeu überwucherte Allée couverté , ein überdachtes Ganggrab aus riesigen Felsbrocken.
„Es ist mir wirklich ein Rätsel, wie die Menschen der Steinzeit mit ihren primitiven Werkzeugen, derart massive Steine bewegen und aufeinander türmen konnten“, wunderte sie sich.
Sie wanderten zwischen den Megalithen herum und setzten sich schließlich auf den Deckenstein des Dolmens, von wo aus sie einen herrlichen Blick auf eine stille Sandbucht hatten.
Später pflückte sie ein Sträußchen Glockenheide für die Autovase und fuhren zu einem kleinen Landgasthof, wo sie Poulet mit Navets , kleinen weißen Rüben, aßen und zum Nachtisch eine köstliche Trüffeltorte.
Auf dem Rückweg hielten sie an einem christianisierten Menhir, einem etwa zweieinhalb Meter hohen Steinkoloss der Megalithkultur, der von den Mönchen eines nahen Klosters im frühen Mittelalter mit einem Kreuz auf der Spitze und christlichen Symbolen versehen worden war.
„Vermutlich wollte man so die alten Götter bannen“, meinte Julien.
Yuna interessierte sich jedoch mehr für eine zum Kloster gehörende Kapelle, die ihr eigentliches Ziel bei diesem Ausflug war. Sie hatte sie vor Jahren mehrmals mit ihrem Großvater besucht, da er hier in einem Fresko Vorlagen für ein paar Skulpturen aus der bretonischen Geschichte und Mythologie gefunden hatte. Die damaligen Eindrücke waren durch ihr nächtliches Erlebnis wieder virulent geworden und es drängte sie, die Bilder des unheimlichen Geschehens mit dem Wandgemälde in dieser Kapelle abzugleichen. Also bat sie Julien, mit ihr die Kapelle zu besichtigen.
„Sie ist kulturhistorisch sehr bedeutend“, begründete sie ihren Wunsch.
Er stimmte der Besichtigung natürlich zu, wenn auch nicht sehr enthusiastisch.
„Aber dann ist Schluss“, verlangte er. „Ein bisschen Bildung ist ja ganz schön, aber im Strandcafé zu sitzen und ein Eis zu essen ist auch nicht zu verachten.“
Yuna lachte.
„Abgemacht. Erst die Kapelle und dann das Eis, du Schleckermaul!“
Sie holten sich den Schlüssel an der Klosterpforte und betraten die Kapelle, die nur aus einem einzigen lang gestreckten Raum bestand.
Allerdings war das Deckengewölbe recht hoch und in etwa drei Meter Höhe wies sie als Besonderheit eine allegorische Wandmalerei auf, die den Raum in der Art eines antiken Freskos komplett umlief: Den Totentanz!
Genau der war es, der Yuna hierher gelockt hatte und sie betrachtete die Darstellung sogleich mit allergrößtem und angespanntem Interesse.
Das Wandbild war verwittert und stellenweise blätterte die Farbe ab, aber das tat der faszinierenden Wirkung keinen Abbruch.
Beim Anblick des makaberen Reigens, der dem Sensenmann folgte, fühlte sie sich sofort in ihr nächtliches Erlebnis zurückversetzt. Alle Figuren hielten einander an den Händen und immer zwischen zwei Menschen ging ein Skelett.
Sie suchte mit dem Blick das Ende des Zuges und als sie es entdeckte, fühlte sie, wie sie blass wurde.
Da gingen sie, als einzige nicht durch einen hässlichen Knochenmann getrennt, Hand in Hand! Die beiden
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