Ein bretonisches Erbe
war doch auch in der Widerstandsorganisation gewesen, hatte er nicht sogar gesagt, er sei ein führender Kopf der Résistance gewesen?
Aber hatte die nicht nur gegen die Besatzer bekämpft? Was konnte sie dann mit diesem Unglück zu tun haben?
Fragen, nichts als Fragen und jede Antwort warf wieder neue Fragen auf. Es war wie verhext. Aber Yuna wollte Klarheit haben. Jetzt erst recht. Das Bild der an Strand aufgereihten Toten, hatte sich zu fest in ihr eingebrannt, als dass sie die Sache einfach zu den Akten legen und vergessen konnte. Auch der Satz ihres Großvaters aus seinem letzten Brief gewann nun eine neue Bedeutung, denn es schien um Nationen zu gehen, die sich bekämpften und um unschuldige Opfer, die ganz offensichtlich zwischen die feindlichen Fronten geraten waren.
Nur die Liebe, die ihr Großvater angesprochen hatte, die vermochte Yuna nicht zu erkennen und auch nicht, wo sie in dieser Sache ihre Kraft entfaltet hätte. Stattdessen kam ihr ein Satz, den jemand zum Bürgerkrieg in Syrien getwittert hatte, in den Sinn: Der Krieg verschlingt jeden, Gerechte und Ungerechte, Hassende und Liebende, Kinder und Mütter, Väter und Greise, die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft.
Das war die grausame Wahrheit – auch der Ereignisse vom 6.7.1943 in Le Ro.
So verließ Yuna ziemlich schweigsam an Juliens Seite das Zeitungsgebäude.
„Und nun?“, fragte er und sah begehrlich auf das Auto.
„Machen wir jetzt noch eine kleine Spritztour?“
Danach stand ihr ja nun gar nicht mehr der Sinn, aber da sie es ihm versprochen hatte, schlug sie vor in die Gegend von Paimpol zu fahren und die Kirche zu besichtigen, in der Gaud und Yann geheiratet haben sollten.
Sehr begeistert nahm er den Vorschlag nicht auf, aber da es ein schönes Stück über eine gut ausgebaute Straße ging und Yuna ihn an´s Steuer ließ, willigte er ein.
Sie saß neben ihm und studierte die Fotokopie des Zeitungsartikels.
„Was macht ein holländisches Passagierschiff in dieser Gegend“, wunderte sie sich.
„Keine Ahnung. Vielleicht war es auf dem Weg über Roscoff nach England und ist von der Route angekommen.“
„Aber das ist ein ziemlich weiter Umweg durch sehr gefährliche Küstengewässer. Warum ist es nicht von Holland aus über das offene Meer gefahren?“
Julien schien im Moment mehr am Autofahren als an Yunas Überlegungen interessiert zu sein, also beschloss sie, am Abend ihre Mutter anzurufen und mit ihr die Sache weiter zu diskutieren. Sie kannte sich ja als Dozentin für Europäische Geschichte sicher in der Kriegszeit aus. Vielleicht konnte sie auch ihren Vater mal mit in die Überlegungen einbinden. Jedenfalls wussten ihre Eltern bestimmt mehr über jene Zeit als Julien.
So steckte sie den Artikel weg und fieberte nun dem Besuch in Paimpol entgegen. Und bald bereute Yuna es überhaupt nicht mehr, dass sie hierher gefahren waren. Es stimmt, dachte sie stattdessen, der Wind bläst wohin er will! Aber gerade wehte er wohl mal wieder in eine Richtung, die für sie und Julien und ihre Liebe genau richtig war.
Auf den Spuren von Gaud und Yann besichtigten sie die Kirche von Ploubaslanec , in der die beiden getraut worden waren. Und sie wanderten auch über die Klippen in der Nähe von Pors-Even zur Dreifaltigkeitskapelle, wo sich nach altem Brauch die Hochzeitsleute den Segen zu holen pflegten. Zwar hatten Gaud und Yann sie wegen des stürmischen Wetters nicht erreichen können, aber Yuna und Julien kamen trockenen Fußes hin und auch wieder zurück.
Es war ein wirklich schmaler Ziegenpfad, der an schroffen Klippen entlang dorthin führte. Und genau wie Loti es beschrieben hatte, lag die Kapelle auf der äußerste Landspitze, am Ende der bretonischen Welt . Bei Sturm und schäumender Gischt hätten sie diesen Weg ganz sicher nicht machen mögen.
Lachend nahm Julien, als sie wieder sicheren Boden unter den Füßen hatten, Yuna in die Arme. Ihnen hatte das Meer zum Glück kein böses Gesicht gemacht!
„Nun kann uns nichts mehr passieren“, sagte er mit blitzenden Augen. „Unsere Liebe ist nun besiegelt und gesegnet!“
Sie spürte noch den warmen Kuss auf ihren Lippen, den er ihr an der Kapelle gegeben hatte, und fühlte sich in seiner Liebe so geborgen und glücklich wie lange nicht mehr.
Als sie im Hafen von Paimpol vor einem der typischen Lokale saßen und jeder eine große Portion Moules marinères aßen, wünschte sie sich, dass dieser Tag nie enden möge.
„Weißt du, dass ich sehr verliebt in dich
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