Ein bretonisches Erbe
dunklen, ehrlichen Augen sehr nachdenklich an, so dass Yuna eine Tiefe in ihm spürte, die sie noch längst nicht ausgelotet hatte.
„Was dann passierte, kannst du dir denken“, sagte er leise.
Sie schüttelte den Kopf.
„Nein, sag es mir.
„Der Kreuzer hatte ein gutes Navigationssystem und entkam. Stattdessen ging dieses Passagierschiff in die Falle. Es hatte offenbar Flüchtlinge aus Holland an Bord, die sich dem Zugriff der Nazis durch eine Flucht nach England entziehen wollten. Es ist dann an den vorgelagerten Klippen in der Nähe des Witwenkreuzes zerschellt.“
„Und es hat tatsächlich niemand überlebt? Wie tragisch.“
Juliens Blick wanderte hinaus auf das so friedlich erscheinende Meer. Eine steile Falte hatte sich auf seiner Stirn gebildet. Sie merkte, dass ihm das Ganze genau so nahe ging wie ihr. Mehr noch vermutlich, denn sein Großvater war in einer entsetzlichen Weise mit diesem Drama verbunden.
„Wirklich tragisch“, sagte er schließlich mit belegter Stimme.
„Die Männer aus dem Dorf, die an der Aktion beteiligt waren, wurden lange nicht mit der Schuld fertig, die sie mit dem Tod so vieler unschuldiger Menschen auf sich geladen hatten. Mein Großvater, als Rädelsführer der Aktion, hat sich nie mehr davon erholt. Jetzt im Alter bedrängen ihn die Erinnerungen wieder ganz stark und darum war seine Reaktion auf deine Frage auch so… so… herb und emotional.“
„Aber es war ein Unglück“, musste Yuna nun doch für Juliens Großvater Partei ergreifen. „Ein tragischer Irrtum. Niemand hat das gewollt… und… es war Krieg!“
„Es gab viele unschuldige Opfer, zivile Opfer…es starben keine Feinde, sondern Menschen, die nie eine Waffe gegen Frankreich erhoben hatten… Jahrelang konnte hier kein Mann dem anderen ins Gesicht sehen, ohne dass er schuldbewusst den Blick senkte. Die vielen Leichen am Strand… ein Bild, das sich auf der Netzhaut der Täter eingebrannt hatte und das niemand wirklich verdrängen konnte, so sehr sich auch jeder darum bemühte…“
„Und die Inschrift in der Grotte? War die denn nicht ein Versuch der Sühne?“
„Darüber hat es Streit gegeben. Aber dein Großvater setzte sich durch und meißelte die Schrift in den Felsen bevor er Le Ro vor fünfzehn Jahren verließ.“
Yuna nickte, das wusste sie ja, seit sie die Entwurfsskizze gefunden hatte.
„Aus irgendeinem Grund wollte dein Großvater nicht, dass der Tag des Unglücks vergessen wird“, sagte Julien. „Viele mühevolle Stunden hat er trotz seines Alters in der kalten Höhle an dem Gedenkstein gearbeitet. Mein Großvater wollte es verhindern, aber dein Opa drohte ihm damit, die ganze Geschichte noch einmal in den Medien aufzurollen. So ließ man ihn schließlich gewähren.
Als du mit deinen Fragen kamst, dachte mein Großvater, du würdest nun alles wieder ans Licht zerren wollen, was die Dorfbewohner inzwischen mit dem gnädigen Mantel des Schweigen bedeckt hatten.“
Mittlerweile verstand Yuna die seltsame Reaktion von Juliens Großvater, wen sie nicht verstand, war ihr eigener Opa.
Warum waren ihm dieses Datum und das Gedenken an dieses Ereignis so wichtig gewesen? Hatte er vielleicht im Alter das zufällige Zusammenfallen des Schiffsunglücks mit der glücklichen Geburt seines Sohnes in Deutschland als eine Art Verpflichtung aufgefasst, das Andenken derer zu bewahren, die so viel weniger Glück gehabt hatten und unschuldig umgekommen waren?
Sie fragte Julien nach seiner Meinung.
„Warum, meinst du, hat mein Großvater das gemacht?“
„Ich nehme an, er wollte den Toten ein Denkmal setzen, das zugleich ein Zeichen sein sollte. Ein Zeichen für die Aussöhnung unserer Völker. Er hat schließlich hier eine zweite Heimat gefunden. War er nicht sogar Mitglied bei den Anciens marins ?“
Yuna fand diese Erklärung von Julien sehr einfühlsam, sie würde auch zu dem letzten Brief ihres Großvaters passen und dem Hinweis den er in den Islandfischern gegeben hatte. Es schien, als sei das Rätsel, das er ihr aufgegeben hatte, tatsächlich gelöst.
„Ach ja, die Anciens marins !“, sagte sie im Gedenken an ihn. „Auf die Mitgliedschaft in diesem Männerbund war er sehr stolz. Obwohl ihm in jedem Boot fürchterlich übel wurde und er mit der Seefahrt überhaupt nichts am Hut hatte. Aber er war in seinem Herzen fast schon ein Bretone und das hat wohl den Ausschlag gegeben, ihn zum Ehrenmitglied zu ernennen.“
„Das stimmt“, sagte Julien und blickte hinüber zu der Stele aus
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