Ein Buch für Hanna
kreischend über die Wasseroberfläche scherten. Ein kräftiger Wind blies schwere, graue Wolken über den Himmel, bald würde es regnen. Sie starrte in das Wasser, das in schmutzigen Wellen gegen die Mauer schlug, mit weißgrauen Kronen wie Seifenschaum. Es war nicht so blau wie die schönste Kornblume und nicht so durchsichtig wie das reinste Glas, und voller Trauer erkannte sie, dass sie den Glauben an das Blau verloren hatte, die Welt der Märchen war ausgelöscht worden, gestorben in den Schrecken von Theresienstadt. Sie wusste, dass der Anblick des Wassers sie früher glücklich gemacht hätte, doch jetzt konnte sie sich nicht freuen. Sie fühlte sich wie ein ungebetener Gast, ein Eindringling, den die Bewohner des Hauses jeden Moment vor die Tür jagen könnten. Und mit Recht. Mit allem Recht der Welt. Denn obwohl sie sich gestern, nach dem Duschen, so sauber gefühlt hatte, wurde sie auf einmal von der Angst gepackt, dass sie den Schmutz von Theresienstadt nie mehr loswerden würde, nicht den Geruch, nicht das Ungeziefer und das ewige Jucken.
»Hanna, komm, sie verteilen Kaffee und Brot«, sagte jemand neben ihr. Es war Samuel. Er nahm sie an der Hand und führte sie zurück zur Halle. Tränen liefen ihr über das Gesicht und mischten sich mit den ersten Regentropfen.
Als die Busse endlich kamen, wurde es bereits dunkel. Sie stiegen ein. Diesmal waren die Fenster nicht abgeklebt, sie konnten hinausschauen in eine Welt, deren Existenz Hanna nicht mehr für möglich gehalten hatte. Sie fuhren durch eine erleuchtete Stadt, ohne die im Krieg üblichen Verdunklungen, durch Straßen, in denen Laternen brannten, vorbei an erleuchteten Fenstern, an Geschäften mit hellen Schaufenstern. Ein feiner Nieselregen fiel und ließ das Straßenpflaster im Licht aufleuchten, helle Flecken huschten durch die Pfützen wie silbrige Fische in einem dunklen See und gegen das gelbe Licht der Laternen hingen die feinen Regenfäden wie dünne Perlenschnüre in der Luft. Hanna hatte vergessen, dass es so etwas überhaupt gab, Licht in der Dunkelheit, helles, strahlendes Licht, ganz anders als die schwachen Glühbirnen in Theresienstadt. Langsam, ganz langsam stieg Hoffnung in ihr auf.
Fast drei Tage dauerte die Fahrt, dann erreichten sie ein großes Lager in der Nähe von Stockholm, vielleicht ein ehemaliges Militärlager, in dem sie einige Wochen in Quarantäne bleiben sollten. Sie wurden in Schlafsälen untergebracht, konnten sich waschen, wurden desinfiziert und frisch eingekleidet. Hanna bekam außer Unterwäsche, einem Trainingsanzug und einem Nachthemd ein blaues Wollkleid mit einem weißen Kragen, das ihr natürlich zu weit war, und dazu blaue Kniestrümpfe und ein Paar feste Halbschuhe. Ihre alten Sachen, die nur noch Fetzen waren, sollten mit allen anderen Kleidungsstücken aus Theresienstadt verbrannt werden. »Wegen der Seuchengefahr«, sagte die freundliche Frau an der Kleiderausgabe, »und außerdem lohnen sich diese Lumpen sowieso nicht mehr.«
Hanna konnte nur nicken.
Danach wurden sie medizinisch versorgt. Die Ärztin, zu der Hanna geschickt wurde, war eine dicke, blonde Schwedin mittleren Alters mit breiten Backenknochen und vollen Lippen, die leidlich gut Dänisch sprach. Sie trug einen weißen Kittel mit einem Namensschild: Dr. Svenson . »Ich habe eine Tochter, die ist genau einen Tag jünger als du«, sagte sie, als sie Hannas Personalien aufschrieb. »Sie hat auch nächste Woche Geburtstag.« Dabei lächelte sie Hanna an, als sei durch diese Tatsache eine geheime Verbindung zwischen ihnen entstanden.
Hanna erwiderte das Lächeln nicht. Ich habe also nächste Woche Geburtstag, dachte sie, ich werde zwanzig Jahre alt. Eine seltsame Vorstellung.
»Mach dich bitte frei«, sagte die Ärztin.
Widerspruchslos zog sich Hanna bis auf die Unterhose aus. Sie sah, dass die Frau beim Anblick ihres abgemagerten Körpers erschrak, sich aber sofort wieder fasste. »Was ist das?«, fragte sie und deutete auf die eitrigen Pusteln auf Hannas Armen und Beinen.
»Wanzenbisse«, antwortete Hanna, »sie sind schon fast verheilt.«
Frau Doktor Svenson untersuchte Hanna gründlich, horchte sie ab, klopfte mit einem Hämmerchen an ihren Knien und Füßen herum, betastete ihren Bauch, wog sie, notierte, wie groß sie war, maß den Umfang ihrer Brust und ihrer Hüften, ihrer Oberarme und Oberschenkel. Dabei stellte sie Fragen, viele Fragen, die Hanna gleichgültig beantwortete. Schließlich sagte sie: »Du kannst dich wieder
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