Ein Buch für Hanna
und unbeherrscht ein Stück nach dem anderen in den Mund, Rachel hielt noch die ganze Tafel in der Hand und betrachtete sie staunend, als könne sie es nicht fassen. Auf ihrem Gesicht lag ein verzücktes Lächeln. Rosa, die links neben ihr am abgeklebten Fenster saß, lutschte andächtig. In ihren Mundwinkeln hingen braune Tropfen.
Langsam, fast misstrauisch, drückte Hanna die Schokolade mit der Zunge gegen den Gaumen. Ihr Mund füllte sich mit einer längst vergessenen Süße, mit einer Erwartung, die durch ihren ganzen Körper zu fließen schien, als würde eine Faser der nächsten zuflüstern: Warte, gleich kommt’s. Doch zugleich mit dieser süßen Erwartung, mit diesem Wohlbehagen, regte sich Zorn in ihr, Zorn darüber, dass es die ganze Zeit Schokolade gegeben hatte. Während sie in Theresienstadt eingesperrt waren, hatte die Welt nicht aufgehört, sich zu drehen, das Leben war weitergegangen. Irgendwo, in irgendwelchen Fabriken, hatten Menschen Schokolade hergestellt und irgendwelche anderen Menschen hatten einfach Schokolade gekauft und gegessen.
Sie bekamen auch heiße Getränke, die von den dänischen Rot-Kreuz-Helfern in einer Kombüse im hinteren Teil des Busses zubereitet wurden. Der Kaffee schmeckte tatsächlich nach Kaffee, noch besser, als er, soweit Hanna sich erinnern konnte, auf dem Lindenhof geschmeckt hatte. Sie trank ihren Becher andächtig und in kleinen Schlucken leer. »Echter Bohnenkaffee mit Zucker«, hörte sie Frau Hvid in der Reihe dahinter sagen, »was für ein Genuss«, und ein paar andere fingen dankbar an zu klatschen. Die Helfer boten denjenigen, die rauchen wollten, Zigaretten an, und als Hanna der Rauch in die Nase stieg, dachte sie: Während wir in Theresienstadt eingesperrt waren, haben in irgendwelchen Fabriken Menschen Zigaretten hergestellt und andere Menschen haben einfach Zigaretten gekauft und geraucht. Sie haben gegessen, getrunken, gearbeitet, sind ins Kino gegangen, haben gelacht und Freunde und Verwandte besucht. Sie haben geliebt, geheiratet und Kinder bekommen. Es gelang Hanna nur schwer, gegen ihren Zorn anzukämpfen und sich zu sagen, dass er ungerecht war. Schließlich hatte sie allen Grund, dankbar zu sein.
Alles kam ihr seltsam vor, unwirklich. Ihr war, als wäre sie in einen diffusen Nebel gehüllt, der alle Konturen so unscharf werden ließ wie auf einem verwackelten Foto. Das mochte vor allem an dem gedämpften weißen Licht liegen, das durch die abgeklebten Fenster hereinfiel.
»Wir mussten die Fenster abkleben«, hatte der Fahrer gesagt. »Die Deutschen haben es verlangt, es war ihre Bedingung.«
»Warum?«, hatte Samuel erstaunt gefragt.
Der Fahrer hatte mit den Schultern gezuckt.
Vielleicht waren die abgeklebten Fenster schuld daran, dass Hanna zweifelte, ob sie Theresienstadt wirklich hinter sich ließen. Sie spürte nicht, dass sie sich vorwärtsbewegten, die einzigen Hinweise waren das Rattern des Motors und das Vibrieren, das vom Sitz aus in ihren Körper stieg.
Hanna war offenbar nicht die Einzige, die das Unwirkliche ihrer Situation empfand, denn plötzlich sagte ein Mann in ihrer Nähe laut: »Schade, dass wir nicht hinausschauen können.« In seiner Stimme lag nicht nur Bedauern, sondern auch Verwunderung, Vorwurf und Verzweiflung.
»Vermutlich wollen die verdammten Nazis nicht, dass ihre ehemaligen Häftlinge die zerbombten deutschen Städte sehen«, sagte einer der Helfer, »die Trümmer sind doch die Beweise ihrer Niederlage.«
»Zur Hölle mit ihnen!«, rief ein Mann, der weiter hinten saß, laut. Zustimmende Rufe waren zu hören.
Hanna rührte sich nicht. Sie wusste, dass sie allen Grund gehabt hätte, glücklich zu sein. Sie war ja auch glücklich, aber diese Empfindung war getrübt. Es liegt nicht nur am Licht, dachte sie, es ist einfach zu schnell gegangen, gestern noch eingesperrt in einem Gefängnis des Schreckens, des Schmutzes und der Angst, und heute, fast übergangslos, eingesperrt in weißem Licht wie in einem mit Watte ausgekleideten Etui. Das war nicht die Freiheit, die sie sich vorgestellt hatte. Mit vielen Menschen in einem geschlossenen Bus zu sitzen, war nicht viel anders, als mit vielen Menschen in einer Ubikation zusammengepfercht zu sein. Dann, ohne dass sie sich rechtzeitig dagegen wappnen konnte, traf sie die Erkenntnis, dass ihr Unbehagen und der bittere Beigeschmack der Schokolade in ihrem Mund einen ganz anderen Grund hatten, nämlich den, dass Mira keine Schokolade mehr essen konnte. Nie mehr.
Die Busse
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