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Ein Buch für Hanna

Ein Buch für Hanna

Titel: Ein Buch für Hanna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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würden im Konvoi fahren, hatten ihre dänischen Helfer gesagt, nein, nicht in die Schweiz, die dänische Regierung habe, zusammen mit dem schwedischen Prinzen Carl und dem schwedischen Diplomaten Folke Bernadotte * , erreicht, dass die dänischen und norwegischen KZ-Häftlinge nach Schweden überführt werden dürften. Der dänische Diplomat Doktor Holm * leite persönlich die Überführung, er sitze in einem der Busse. Es würde erst durch die Tschechoslowakei gehen, dann durch Deutschland.
    Eigentlich durften die Insassen die Busse nicht verlassen, trotzdem blieben die Fahrer alle paar Stunden stehen, an einem Waldrand, in einer Talsenke, an einem abgelegenen Gehöft, und ließen ihre Fahrgäste aussteigen, erst die Frauen und die Kinder, dann die Männer, damit sie sich ein bisschen die Beine vertreten und ihre Notdurft verrichten konnten. Bei diesen Aufenthalten mussten Hanna und Sarah Frau Hvid stützen, die große Schwierigkeiten beim Aus- und Einsteigen hatte. Sie mussten ihr auch behilflich sein, wenn sie sich hinter einem Gebüsch erleichtern wollte.
    Einmal, als die Männer nach einem dieser Aufenthalte wieder in den Bus zurückkamen, drückte ihr Samuel im Vorbeigehen ein paar Veilchen in die Hand. »Hier, für dich, hab ich gerade gefunden«, sagte er verlegen und ging gleich weiter. Hanna hielt die Blumen in der Hand, betrachtete sie staunend, sog tief ihren süßen Duft ein und spürte, wie ihr warm wurde. Wie lange war es her, dass sie Veilchen gesehen hatte?
    Am zweiten Tag gab es Schwierigkeiten. Die Busse hielten immer wieder an, wendeten oder fuhren rückwärts, bogen ab, versuchten eine neue Route zu finden. Die Insassen, die nicht sehen konnten, was diese unerwarteten Störungen verursachte, reagierten zunehmend beunruhigt. Frau Hvid fing vor Angst an zu weinen, und Hanna hörte, wie ihr Mann und Sarah beruhigend auf sie einredeten. »Wir sind nicht weit von Dresden * «, sagte ein Helfer, als Samuel sich erkundigte, was denn los sei. »Die Stadt ist vollkommen zerstört, die Straßen sind verstopft, wir kommen einfach nicht durch. Alles nur ein Haufen Schutt und Ruinen.«
    Bella, die aus Dresden stammte, stieß einen unterdrückten Schrei aus. Sie sprang auf und drängte zum Fenster. Hanna gab Rosa ein Zeichen, Rosa räumte bereitwillig ihren Platz für die Freundin und setzte sich neben Rachel. Bella kratzte einen schmalen Spalt in den Rand des Sichtschutzes an der Scheibe und spähte hinaus. Immer wieder nahm sie die Brille ab, setzte sie auf, nahm sie ab. Ihre knochigen Schultern zuckten. Als sie sich umwandte, war ihr Gesicht nass von Tränen. »Alles ist kaputt«, flüsterte sie, »wirklich alles. Das kann niemand überlebt haben.«
    Hanna schob den Gedanken, wie Leipzig wohl aussehen mochte, beiseite und nahm Bella in den Arm. »Deine Eltern sind nicht mehr hier«, sagte sie beruhigend. »Du weißt doch, dass sie alle Juden weggebracht haben. Die Bomben haben nur Deutsche getroffen und die Nazis sind selber schuld.«
    Bella hörte nicht auf zu weinen. »Vielleicht haben sie sich ja versteckt«, schluchzte sie. »Vielleicht haben ihre Nachbarn ihnen geholfen. Denk doch an Ursula, nicht alle Deutschen sind Nazis.«
    Vielleicht nicht alle, dachte Hanna, aber viel zu viele. Laut sagte sie: »Wenn deine Eltern sich versteckt haben, sind sie bestimmt aufs Land gegangen. Und die Alliierten haben doch nur Städte zerbombt, warum sollten sie Bomben auf Dörfer werfen?« Aber Bella ließ sich nicht trösten, sie heulte Rotz und Wasser, ihr Gesicht war nass und verschmiert. Das Einzige, was Hanna für sie tun konnte, war, ihr die Brille abzunehmen und sie mit ihrem Rockzipfel zu putzen.
    Bella weinte auch noch, als die Busse längst im Bogen um das zerstörte Dresden herumgefahren waren, die Schluchzer schüttelten ihren Körper. Hanna hielt sie weiter im Arm, das Gesicht der Freundin lag an ihrer Schulter, sie spürte ihre Tränen an ihrem Hals. Bella weinte so lange, bis sie an Hannas Schulter eingeschlafen war. Hannas Muskeln verkrampften sich und wurden steif, aber sie wagte nicht, sich zu rühren, um Bella nicht zu wecken. Schließlich döste auch sie ein.
    Die Fahrt dauerte lange, manchmal kamen sie nur sehr langsam weiter. »Die Straßen sind verstopft«, sagten die Helfer. Am Tag darauf hörten sie den Lärm von Geschützen, der immer lauter wurde, je weiter nördlich sie fuhren. Das Schießen schien gleichzeitig von rechts und von links zu kommen. Die Menschen im Bus sanken tiefer in ihre

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