Ein Buch für Hanna
mehr gab und weil sie in einem so schlechten körperlichen Zustand waren, dass man sie erst einmal aufpäppeln musste. Hanna und Rachel standen im Hof und schauten zu, wie sie aus den Bussen stiegen. Es waren bis auf die Knochen abgemagerte Männer und Frauen, die sich so langsam vorwärtsbewegten, dass Hanna sie erschrocken anstarrte und fürchtete, sie könnten noch langsamer werden und im Gehen sterben, ohne dass es jemand merkte.
»Sie sehen aus, als würden sie noch nicht mal das Desinfizieren und das Duschen überleben«, sagte Rachel entsetzt. Und leise fügte sie hinzu: »Schaust du auch, ob deine Mutter dabei ist?«
Hanna schluckte, bevor sie ebenso leise antwortete: »Ich weiß gar nicht, ob ich meine Mutter erkennen würde, wenn sie eine von ihnen wäre.« Aber natürlich suchte sie in den ausdruckslosen, toten Gesichtern nach den Zügen ihrer Mutter, nach der Erinnerung an die Züge ihrer Mutter. Am liebsten wäre sie hingelaufen und hätte jeden Einzelnen gefragt: Riwke Salomon? Haben Sie da, wo Sie herkommen, Riwke Salomon aus Leipzig getroffen? Eine kleine, dünne, traurige Frau?
Aber dünner und trauriger als diese Menschen konnte niemand aussehen.
Im Flur vor dem Büro wurden die ersten Listen ausgehängt, Listen mit Namen von Überlebenden und von Toten, vor allem von Toten. Alle Neuankömmlinge wurden ausführlich befragt, wen sie dort, wo sie herkamen, lebend gesehen hatten, wie die Betreffenden hießen und woher sie stammten, und von welchen Mithäftlingen sie sicher wüssten, dass sie tot waren. Alles wurde penibel aufgeschrieben und die Listen mit den Namen wurden von Tag zu Tag länger. Bald reichte die eine Wand nicht mehr aus, auch die gegenüberliegende Wand füllte sich mit Blättern, vor allem, als bald auch Listen aus anderen Sammelstellen eintrafen, viele Listen.
Hanna und Samuel standen davor und gingen die Reihen durch, einen Namen nach dem anderen. Manche Listen waren alphabetisch geordnet, andere nicht, das erschwerte das Suchen. Hanna stellte erstaunt fest, dass der Name Salomon gar nicht so selten war. Und welchen Vornamen hatte ihre Mutter angegeben? Riwke? Rebekka? Oder Sarah? Schließlich hatten alle Juden einen zweiten Vornamen in ihre Papiere eintragen lassen müssen, die Männer Israel und die Frauen Sarah. Und welchen Heimatort hatte sie genannt? Ihr schtetl in Polen oder Leipzig? Und dann, plötzlich, entdeckte sie den Namen, er sprang ihr in die Augen und nahm ihr den Atem: Salomon, Riwke. Ihr Herz machte einen Satz und begann zu rasen, ihre Stimme überschlug sich und ihre Hand zitterte, als sie auf den vertrauten Namen deutete. »Sami, schau doch, da!«
Aber Samuel legte ihr den Arm um die Schulter und hielt sie fest. »Nicht, Hanna! Diese Riwke Salomon ist aus Ungarn, Hanna, da steht’s doch, aus Ungarn.«
Es war wie ein Schlag. Hanna spürte, wie ihr das Blut aus dem Kopf in die Beine sackte, wie ihre Knie weich wurden, in ihren Ohren rauschte es und alles um sie herum verschwamm. »Ja, natürlich«, sagte sie, als sie sich endlich gefasst hatte. »Ja, natürlich. Wie dumm von mir. Als könnte es nicht noch andere Frauen geben, die Riwke Salomon heißen.«
Sie drehte sich um und verließ den Flur. Im Schlafsaal legte sie sich auf ihr Bett und starrte hinauf zu der hellen Decke, an der ein paar Fliegen herumkrabbelten. Wimmelnde schwarze Punkte, die sich in ziellosen Kreisen umeinanderbewegten, ohne dass man verstehen konnte, was sie miteinander zu tun hatten.
Die Enttäuschung war groß, aber Hanna gab nicht auf. Gleich am nächsten Tag fing sie wieder damit an, Namen zu lesen. Jeden Morgen nach dem Frühstück lief sie zum Flur und stellte sich zu all den anderen, die ebenfalls nach Angehörigen und Freunden suchten, stand stundenlang vor den Listen und las Namen von Überlebenden, Namen von Toten. Es waren so viele, so unvorstellbar viele. Und weil sie den Namen ihrer Mutter nicht fand, dachte sie sich alle möglichen Szenarien aus, die sie wenigstens für ein paar Augenblicke hoffen ließen, ihre Mutter sei noch am Leben. Sie könnte irgendwo an einem abgelegenen Ort sein, wo es keine Möglichkeit gab, sie zu befragen und in eine Liste von Überlebenden einzutragen. Vielleicht hatte sie vorübergehend das Gedächtnis verloren. Oder sie war so krank, dass sie ihren Namen nicht sagen konnte. Noch nicht.
Sie suchte unter den Überlebenden sogar nach Miras Namen, obwohl sie doch wusste, dass sie tot war. Sie selbst hatte schließlich, als sie befragt wurde,
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