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Ein Buch für Hanna

Ein Buch für Hanna

Titel: Ein Buch für Hanna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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ums Essen. Wie besessen schlang sie alles in sich hinein, was sie erwischen konnte, gierig und zügellos. Sie achtete nicht auf den Geschmack, spürte ihn gar nicht. Süß? Sauer? Bitter? Sanft? Egal. Heiß? Kalt? Auch egal. Und mehr als einmal stopfte sie sich so voll, dass sie sich hinterher übergeben musste, dann stand sie über die Kloschüssel gebeugt und würgte, bis ihre Eingeweide brannten.
    Erst nach Wochen ließ diese Gier sie aus ihren Fängen, und sie merkte, dass der Sommer kam. Sie hörte das Zwitschern der Vögel, spürte die Wärme der Sonne auf ihrer Haut, roch das frische Gras, sah das junge Laub der Birken und dass auf der Wiese hinter dem Lager Gänseblümchen und Löwenzahn blühten. Alles war so neu, als hätte sie es noch nie erlebt, als wäre es das erste Mal. Wie hatte sie das vergessen können? In Theresienstadt hatten die Jahreszeiten keine Rolle gespielt, da hatte es nur Kälte oder Wärme gegeben, und auch das Wetter war nur deshalb wichtig gewesen, weil man entweder fror oder nicht, nass wurde oder trocken blieb. Und die Farben? In ihrer Erinnerung lag über allem ein schmutziges Graubraun. Halt, sagte Mira, sogar in Theresienstadt war nicht alles grau, hast du etwa Marek vergessen? Sie brachte diese Stimme schnell zum Schweigen, sie wollte nicht an Marek denken. Nicht an Marek, nicht an Mira. Nicht in diesem Moment, nicht jetzt. Sie lief über die Wiese hinter dem Lager, legte sich ins Gras, obwohl der Boden noch feucht vom letzten Regen war, schaute hinauf in das seidige Blau und spürte, dass sie lebte. Egal wie, sie lebte.
    Im Lauf der Zeit erfuhren sie immer neue, immer schrecklichere Tatsachen, hörten und lasen Dinge, die noch viel unvorstellbarer waren als die Gerüchte, die sie in Theresienstadt nicht hatten glauben wollen, von Tod und Vernichtung, von Massenerschießungen und Vergasungen. Millionen ermordeter Juden solle es gegeben haben, hieß es. Ständig tauchten neue Namen auf, Namen von Orten, die in Polen lagen. Treblinka, Majdanek, Belzec, Stutthof, Sobibór. Und immer wieder Auschwitz. Warum hatten die Deutschen diese Lager ausgerechnet in Polen eingerichtet? Gut, es hatte auch Lager in Deutschland gegeben, Dachau, Bergen-Belsen, Buchenwald, Ravensbrück, Flossenbürg, und Mauthausen in Österreich, aber die schlimmsten lagen in Polen. Es waren die Lager, deren Namen mit besonderem Grauen ausgesprochen wurden, Vernichtungslager. So viele Namen, so viel unvorstellbares Leid.
    Hanna konnte sich die Namen der Orte kaum merken. Von Auschwitz hatte sie schon in Theresienstadt gehört, wusste sogar, dass es eine Stadt in der Nähe von Krakau war, aber die anderen Namen verbanden sich in ihrer Vorstellung nicht mit Städten, in denen Menschen wohnten, aßen, tranken, lebten und liebten, sie waren Synonyme für Tod, abstrakte Kürzel für massenhaftes Morden.
    Samuel war es gelungen, eine Europakarte aufzutreiben, eine alte Karte mit Ländergrenzen, von denen man damals, vor dem Krieg, noch geglaubt hatte, sie seien unveränderlich. Er hatte die Karte auf dem großen Tisch im Aufenthaltsraum ausgebreitet und trug mit einem dicken, schwarzen Stift die fremd klingenden Namen ein. Hanna und Sarah schauten ihm dabei zu. Als er »Auschwitz« schrieb, hob er mitten im Wort plötzlich die Hand mit dem Stift und sagte: »Ich hatte in Theresienstadt einen Freund. Er hieß Johann Goldschmidt, Johann Sebastian Goldschmidt, und er hat Musik studiert, genau wie ich früher. Ich habe ihn sogar einmal in einem Konzert gehört, in Verdis Requiem , er hat großartig gespielt. Er war ein wirklicher Freund. Der einzige, den ich je hatte. Der einzige, mit dem ich über alles sprechen konnte.«
    Samuel schwieg, starrte vor sich hin. Seine Hand mit dem Stift hing bewegungslos in der Luft. »Und?«, fragte Hanna, als ihr das Schweigen zu lange dauerte.
    »Wir waren nur ein Jahr lang Freunde, im letzten Herbst ist Johann mit einem der Transporte in den Osten geschickt worden, nach Auschwitz, hieß es.« Samuel beugte sich vor, schrieb das Wort zu Ende.
    Hanna wusste nicht, was sie sagen sollte. Etwa: Dein Johann Sebastian war nicht der Einzige, der in den Osten geschickt wurde? Sie brachte es nicht über sich, Mareks Namen zu erwähnen, nicht so beiläufig, als wäre er nur einer von vielen. Obwohl er tatsächlich nur einer von vielen war.
    Die ersten Überlebenden aus den Konzentrationslagern kamen bei ihnen an, Menschen, die man nicht nach Hause zurückschicken konnte, weil es dieses Zuhause nicht

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