Ein Buch für Hanna
Sitze, sie pressten die Lippen zusammen, um ihre Angst nicht herauszuschreien. So hörbar nahe war ihnen der Krieg noch nie gekommen. Irgendwann hielt ihr Bus an, und die beiden Fahrer stiegen aus, um sich mit ihren Kollegen zu beraten.
»Die Fronten sind einander schon ganz nahe«, erklärte einer von ihnen, der große, gut genährte, als sie zurückkamen. »Auf der einen Seite die Amerikaner oder die Engländer und die Franzosen, auf der anderen Seite die Russen. Es wird schwer sein, durchzukommen.« Als er die entsetzten Gesichter seiner Fahrgäste sah, fügte er beruhigend hinzu: »Macht euch keine Sorgen. Wenn wir es nicht schaffen, drehen wir um und fahren in die Schweiz.«
Aber sie schafften es irgendwie, der Lärm der Geschütze wurde allmählich leiser. Die Essensvorräte, die ihnen anfangs so üppig vorgekommen waren, gingen schon zur Neige, als sie Dänemark erreichten. Die Busse hatten Theresienstadt am 15. April verlassen, vier Tage später überquerten sie die dänische Grenze. Von dort aus fuhren sie über Seitenstraßen Richtung Kopenhagen.
Doch der Transport musste sich herumgesprochen haben, denn da und dort warteten Leute am Straßenrand auf sie, sie reichten ihnen heiße Getränke und belegte Brote, und für eine Nacht bezogen sie sogar ein Hotel, in dem es Duschen gab, Duschen, aus denen tatsächlich heißes Wasser floss. Sie bekamen ein warmes Abendessen, das aus Suppe, Kartoffeln, Gemüse und einem kleinen Stück Fleisch bestand. Ungläubig bestaunten sie ihre Teller. Eine richtige Mahlzeit! In den Bussen hatten sie nur Konserven gegessen.
Anschließend gingen sie duschen. Hanna stand in der Kabine und genoss das heiße Wasser. Es gab sogar ein Stück Seife, Kernseife, die nach Frische und Sauberkeit roch. Das Wasser prasselte auf sie herab, lief an ihrem Körper herunter und war heiß und wunderbar, ganz anders als bei dem gelegentlichen Duschen in Theresienstadt, wo sie sich immer zu mehreren unter einer nur spärlich tropfenden Brause zusammengedrängt hatten und das Wasser oft kalt oder höchstens lauwarm war. Sie wäre noch viel länger stehen geblieben, aber draußen warteten andere, die auch duschen wollten, deshalb nahm sie das Handtuch, das man ihr beim Betreten ihres Zimmers in die Hand gedrückt hatte, und trocknete sich ab. Sie fühlte sich so sauber, dass sie nur mit größtem Widerwillen in ihre alten Theresienstädter Kleider schlüpfte. Dann fiel sie todmüde in das Bett, das sie mit Rachel teilte. Sie war viel zu erschöpft, um die Matratze, das Federbett und die saubere, gut riechende Bettwäsche genießen zu können.
Am nächsten Morgen wachte sie noch immer todmüde auf, frühstückte und bestieg mit den anderen wieder den Bus. Seltsamerweise nahm ihre Erschöpfung zu. Obwohl sie nicht arbeiten musste, obwohl sie nicht in der Schlange zu stehen brauchte, sondern ohne Gegenleistung genügend zu essen bekam, war sie wie betäubt, genau genommen fühlte sie sich erschöpfter als in Theresienstadt. Aber sie wagte nicht, das laut auszusprechen, es wäre ihr undankbar vorgekommen. Noch nicht einmal Sarah gegenüber sagte sie etwas, die Freundin hatte schon genug Kummer mit ihrer kranken Mutter. Zum Glück war ein Sanitäter zugestiegen und kümmerte sich um Frau Hvid.
Irgendwann erreichten sie den Kopenhagener Freihafen. Von dort aus brachte sie eine Fähre nach Malmö. Als sie den Fuß auf schwedischen Boden setzte und die ersten Schritte machte, verstand Hanna, dass sie den Krieg wirklich hinter sich gelassen hatten. Sie schaute sich um und betrachtete zum ersten Mal ihre Mitreisenden, die sie bisher kaum beachtet hatte. Manche der ehemaligen Häftlinge weinten, andere jubelten und einige knieten sogar nieder und küssten den schmutzigen Asphalt. Aber nicht alle reagierten so überschwänglich, es gab auch genügend Menschen, die mit ausdruckslosen Gesichtern vor sich hin starrten, und es gab Kranke, die von Sanitätern auf Tragen transportiert wurden. Man sagte ihnen, sie müssten hier auf die Busse warten, mit denen sie weiterfahren würden, und wies ihnen Schuppen und Lagerhallen zu, wo sie sich auf Kisten und Säcke setzen konnten.
Hanna verließ die Halle und ging hinüber zum Pier. So lange hatte sie sich nach dem Anblick des Meeres gesehnt. Sie stand da, schaute über das Wasser und atmete tief die salzige Seeluft ein, den Geruch nach Algen und Fischen, in den sich andere Gerüche mischten, nach Öl, nach Rauch, nach Moder. Sie beobachtete die Möwen, die
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