Ein Buch für Hanna
Miras Namen genannt. Mira Ascher, geboren 1922 in Leipzig, gestorben in Theresienstadt, an einer Lungenentzündung. Das Todesdatum? Keine Ahnung, es muss im Dezember 1944 gewesen sein, Anfang oder Mitte Dezember. Wir hatten keinen Kalender. In Theresienstadt gab es keine Vergangenheit und keine Zukunft und die Gegenwart war sinnlos, warum sollten wir auf ein Datum achten? Es war kalt, wir froren, wir hatten nichts mehr, was wir in den Ofen stecken konnten. Ich weiß noch genau, dass frischer Schnee lag, als wir Mira ins Krankenhaus brachten. Vier Tage später war der Schnee zu Matsch geworden und Mira war tot.
»Ich habe sie nicht gesehen«, sagte sie zu Samuel. »Die Schwester hat gesagt, sie wäre schon im Krematorium. Aber sie war seltsam, diese Schwester, und einen Arzt haben wir gar nicht zu Gesicht bekommen. Manchmal glaube ich nicht, dass sie tot ist. Dann denke ich, dass es ihr vielleicht gelungen ist zu fliehen. Dass der Arzt oder die Schwester ihr bei der Flucht geholfen haben. Vielleicht haben sie ja nur gesagt, sie wäre gestorben, damit niemand nach ihr sucht. Das könnte doch sein, oder?«
Samuel schüttelte den Kopf.
Ein paar Tage später forderte er sie abends nach dem Essen zu einem Spaziergang auf. Es war einer jener Sommerabende, wie man sie nur in nördlichen Ländern kennt, ein Abend, der erst nach einer langen Dämmerung für wenige Stunden in eine schwerelose Dunkelheit übergehen würde. Der Himmel war wolkenlos, ein blasser Mond tauchte alles in weißliches Licht. Hand in Hand gingen sie durch die Wiese zum nahen Waldrand. Hinter einem Gebüsch setzten sie sich auf den Boden, der noch ein bisschen warm war vom vergangenen Tag. Samuel riss ein paar Grasbüschel heraus und glättete den Boden mit der flachen Hand, die sich im Mondlicht blass gegen die dunkle Erde abhob. Dann holte er Streichhölzer und zwei Kerzen aus seiner Jackentasche, zündete eine an und steckte sie in die vorbereitete Fläche, bevor er Hanna die zweite hinhielt. »Für Johann und Mira«, sagte er. Hanna zündete ihre Kerze an seiner an und steckte sie ebenfalls in die Erde.
Samuel legte die Hand auf ihren Arm, eine Berührung, die ihr inzwischen vertraut war. »Wenn es kein Grab gibt, geht die Trauer ins Leere«, sagte er. »Man braucht einen Ort, an dem man seine Gedanken und Gefühle festmachen kann. Ohne einen Ort oder ein Bild fällt es einem schwer, an die Realität zu glauben, auch wenn sie offensichtlich ist. Diese beiden Kerzen sollen ihre Gräber sein.« Und dann sprach er das Kaddischgebet * , das hinterbliebene Söhne überall in der Welt für ihre toten Eltern sagen.
»Ich glaube nicht, dass Mira das gewollt hätte«, sagte Hanna, als er wieder schwieg. »Sie war nicht religiös. Sie hat nicht daran geglaubt, dass man den König der Welt mit Gebeten bestechen kann. Sie hat noch nicht einmal geglaubt, dass er der König der Welt ist.«
»Es geht nicht um Bestechen und es geht nicht um Glauben, es geht um ein Ritual, das unserer Trauer eine Form gibt«, sagte Samuel. »Johann war übrigens religiös. Und gib doch zu, schaden kann es nichts.«
Hanna fing an zu weinen. All die Tränen um Mira, die sie in Theresienstadt tief in sich vergraben hatte, flossen jetzt aus ihr heraus. Auch Samuel weinte. Sie weinten beide und versuchten gar nicht, sich gegenseitig zu trösten. Es gab keinen Trost. Später, als sie sich beruhigt hatten, fragte Hanna: »Hast du noch eine Kerze?«
Samuel nickte, hielt ihr eine weitere Kerze und die Streichhölzer hin. »Für deine Mutter?«, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, für meine Mutter gebe ich die Hoffnung noch nicht auf. Diese Kerze ist für meinen Schutzengel.« Sie zündete die Kerze an und steckte sie ebenfalls in die Erde, neben die beiden anderen, die schon zur Hälfte abgebrannt waren. Und dann erzählte sie ihm von Marek, langsam und stockend erzählte sie ihm alles, was ihr einfiel. Samuel hörte ihr schweigend zu, sein Gesicht mit den halb geschlossenen Augen sah im Mondlicht so schön aus wie damals, an jenem verhängnisvollen Abend vor der Deportation, als er für seine Familie auf der Geige gespielt hatte, und wie damals warfen seine Wimpern Schatten auf die Haut, die nun blass und durchsichtig war. Aber auch heute dachte Hanna, dass sie noch nie einen so schönen Menschen gesehen hatte. Seine Schönheit war zerbrechlicher als früher, dadurch aber umso ergreifender. Sie legte ihre Hand auf seine. Seine Finger waren sehr lang und dünn. »Marek hatte
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