Ein Buch für Hanna
dass sie den ganzen Sommer über schönes Wetter gehabt hätten. Kein Wort vom vielen Lachen. Kein Wort von ihrem Glück.
Vierzehn Tage nach der Abreise der dänischen Kinder war der unbeschwerte Sommer endgültig vorbei. Am 1. September 1939 überfiel die deutsche Wehrmacht Polen und am 3. September erklärten Frankreich und Großbritannien Deutschland den Krieg.
Alle waren bedrückt und schweigsam, sogar Schula und Moritz, sie wussten offensichtlich nicht, was sie sagen sollten. Krieg. Sie alle kannten Geschichten vom Krieg, natürlich kannten sie sie, von ihren Eltern, ihren Großeltern, ihren Onkel und Tanten. Krieg bedeutete Angst, Sorgen und Not, Krieg bedeutete vor allem Hunger. »Wir haben Sägemehl in den Brotteig gemischt.« – »Wir haben Suppenknochen fünfmal ausgekocht.« – »Wir haben Kartoffelschalen gegessen.« – »Wir haben gebettelt und gestohlen.« – »Wie Fliegen sind die kleinen Kinder gestorben, weil ihre Mütter keine Milch mehr hatten.« – »Wir hätten unsere Seele verkauft für ein Stück Brot.«
Sie liefen mit gesenkten Köpfen herum und wichen einander aus. Sie zündeten keine Lagerfeuer an, obwohl die Tage noch immer mild waren und die Abenddämmerungen lang. Sie sangen und tanzten auch nicht mehr, sie schwiegen und gingen früh schlafen.
Nach einem Vortrag über jüdische Gemeinden zur Zeit der Kreuzzüge, den Moritz gehalten hatte, saßen sie im Speisesaal. Keiner hatte Lust zum Diskutieren, die Zeit der Kreuzzüge war lange her, sie hatten andere Sorgen.
»Macht doch nicht solche Gesichter«, sagte Schula plötzlich. »Ihr solltet froh sein, dass ihr noch rechtzeitig aus Deutschland rausgekommen seid. Es war doch zu erwarten, dass Hitler einen Krieg anfangen würde.«
Mira fuhr sie giftig an: »Du hast gut reden! Du hast ja auch keine Eltern und Geschwister in Deutschland. Du hast ja keine Ahnung …« Sie stockte, presste die Lippen zusammen, schwieg.
Hannelores Blick wanderte von Mira zu Schula. Inzwischen wussten alle, dass Schula vor einem Jahr, nach dem Anschluss Österreichs an Deutschland, mit ihren Eltern und ihren beiden jüngeren Brüdern von Wien in die Niederlande geflohen war, nach Amsterdam. Es gab keinen Grund, ihr das vorzuwerfen. Trotzdem konnte jeder Miras Ärger und ihre Angriffslust nachfühlen, diese Mischung aus Neid und Angst.
Auch Schula verstand vermutlich Miras Reaktion, sie wies sie jedenfalls nicht zurecht, sie drehte sich um, stützte sich mit den Händen auf die Fensterbank und schaute hinaus. Eine unangenehme, gespannte Stille breitete sich im Speisesaal aus, die Luft schien zu vibrieren, als würde die Angst in ihrem Inneren die Außenwelt erzittern lassen. Schulas Konturen hoben sich schwarz gegen den Himmel ab, der jetzt, am Abend, so blassblau und durchsichtig aussah, als wäre er aus Glas. Wieder fiel Hannelore Schulas seltsam birnenförmige Gestalt auf, mit einem relativ kleinen Kopf, schmalen Schultern und schmalem Oberkörper, der mit einer schwungvollen Linie in ein ausladendes Hinterteil überging, und sie erinnerte sich, dass Bella gesagt hatte: Wie ein Brauereigaul.
»Wir hätten es wissen können«, sagte Herbert, ein dunkelhaariger Junge aus Düsseldorf, nach einer ganzen Weile. »Natürlich hatten wir Angst vor der Zukunft, aber wir haben sie uns nicht eingestanden. Wir haben den Kopf in den Sand gesteckt und gedacht, wenn wir die Gefahr nicht sehen, existiert sie vielleicht gar nicht.«
»Klugscheißer«, sagte der kleine, rothaarige Mendel. »Du tust immer so, als wüsstest du alles.«
Rebekka mischte sich ein. »Er hat recht«, sagte sie zu Mendel. Dann wandte sie sich an die anderen: »Wir haben die Wörter doch alle gehört. Verteidigung des Vaterlands, Rüstung, Bewaffnung, Wehrpflicht, Volk ohne Raum … Wir haben die ganze Zeit gehört, wie sie davon gesprochen haben. Wir haben die Wörter im Radio gehört und in der Zeitung gelesen. Aber wir haben getan, als wüssten wir nicht, was sie bedeuten.«
»Stimmt, das haben wir alles gehört«, sagte Bella. »Wir haben auch von Luftschutzübungen und Gasmasken gehört. Aber wir haben uns nichts dabei gedacht.«
Sie schwiegen, bis Mira plötzlich sagte: »Verdammt, warum sind unsere Eltern bloß nicht rechtzeitig ausgewandert? Sie hätten es doch besser wissen müssen.«
»Mein Vater hat gesagt, es würde nichts so heiß gegessen wie gekocht«, widersprach Rachel. »Wir müssten nur den Kopf einziehen und warten, der braune Spuk würde bestimmt bald vorbeigehen. Und
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