Ein Buch für Hanna
peinlich es mir war, als Joschka mal einen Witz über meinen Busen gemacht hat, verdammt peinlich.
Aber ich wollte ja von Mimi erzählen.
Ich war zwölf, als ich an der Trambahnhaltestelle eine winzige Katze fand. Es hatte geregnet und ihr Fell war nass, deshalb sah sie besonders dünn und erbärmlich aus. Niemand konnte sich erklären, wie sie da hingekommen war, und eine Frau sagte, ich solle sie doch liegen lassen, sie würde sowieso sterben. Ich achtete nicht auf sie, ich war, wie soll ich es sagen, plötzlich ein anderer Mensch geworden. Ich empfand nicht nur Rührung, es war mehr als das, es war, als hätte ich plötzlich den Sinn des Lebens erkannt. Genau so war es, auch wenn mir dieser Gedanke erst später gekommen ist.
Ich schob das Kätzchen, das ich Mimi nannte, unter meinen Pullover, um es zu wärmen, und nahm es mit nach Hause, obwohl ich wusste, dass meine Mutter strikt gegen Tiere in der Wohnung war. Deshalb habe ich Mimi in meinem Zimmer versteckt.
Die folgenden Wochen waren nicht einfach. Mimi war noch zu klein, um allein zu trinken, ich musste sie alle zwei Stunden mit einem Puppenfläschchen füttern, auch nachts. Dafür lieh ich mir Joschkas Wecker. Joschka hat sich wirklich prima verhalten, er wusste natürlich Bescheid und half mir, wo er nur konnte. Gemeinsam überredeten wir Hertha, das Dienstmädchen, das wir damals noch hatten, unseren Eltern gegenüber den Mund zu halten, denn vor Hertha konnte ich Mimi natürlich nicht verstecken. Außerdem brauchte ich sie, um das Füttern zu übernehmen, wenn ich in der Schule war. Und ich hab’s geschafft, Mimi ist nicht gestorben. Diese Wochen mit Mimi waren die glücklichsten in meinem Leben, niemals davor und niemals danach war ich so glücklich. Ich war so voller Liebe. Anders kann ich es nicht sagen, auch wenn es kitschig klingt.
Irgendwann hat meine Mutter es natürlich doch rausgekriegt und es gab einen Mordskrach. Aber Joschka hat mir beigestanden, ohne seine Hilfe hätte ich meine Mutter bestimmt nicht dazu gebracht, dass sie zustimmt. Nun ja, Joschka ist ihr Herzensbobbel, ihm kann sie nicht widerstehen. Sonst hat es mich immer wütend gemacht, wie ungerecht sie sich uns beiden gegenüber verhalten hat, der wunderbare Joschka und die böse Mira, doch damals hat es mir genützt, Mimi durfte bleiben. Bis sie eines Tages nicht mehr da war. Weggelaufen. Jemand musste alle Türen offen gelassen haben, auch die zur Veranda. Hertha hat geschworen, sie sei es nicht gewesen. Tagelang lief ich überall herum und suchte Mimi, ich fragte die Nachbarn, sprach fremde Leute an, doch Mimi war und blieb verschwunden. Damals habe ich gedacht, dass meine Mutter … Aber Joschka hat gesagt, so etwas würde sie nie tun. Ich war mir da nicht so sicher, ich bin mir bis heute nicht sicher. Wer soll es sonst gewesen sein?
Habe ich nach Mimis Verschwinden eigentlich geweint? Ich glaube nicht. Warum muss ich dann heute weinen, fünf Jahre später? Etwa wegen meiner Eltern? Jetzt sind sie allein, hat Hanna gesagt. Was machen sie, wenn sie allein sind, ohne Joschka und mich, ohne ihre Blitzableiter?
Ich weiß genau, wie meine Eltern auf andere wirken, ein schönes Paar, ein erfolgreiches Paar, nach außen hin sind sie perfekt. Und bestimmt sind ebenso viele Frauen neidisch auf meine Mutter, wie Männer neidisch auf meinen Vater sind. Zumindest früher waren sie das. Aber Joschka und ich wussten es besser. Unsere Mutter lächelt nur, wenn sie das Haus verlässt oder wenn sie Gäste empfängt, sonst ist sie immer am Meckern und Jammern. Sie braucht nur den Mund aufzumachen, schon purzeln Vorwürfe heraus. Mein Vater hat immer das meiste abbekommen. Vorwürfe, warum er es nicht geschafft hatte, amerikanische Visa für uns vier zu besorgen, anderen Männern war das doch auch gelungen. Vorwürfe, dass das Geld hinten und vorne nicht reichte. Vorwürfe, dass er mal wieder irgendeiner Frau schöne Augen gemacht hatte. Vorwürfe, Vorwürfe, Vorwürfe …
Am schlimmsten war es, als wir letztes Jahr im Dezember unser Auto weggeben mussten, weil die Führerscheine und Kraftfahrzeugzulassungen von Juden eingezogen wurden, und im Februar drauf, als Juden ihren Schmuck und alles, was sie aus Edelmetall besaßen, abliefern mussten, auch Kerzenständer und silberne Bestecke. Ich glaube ja nicht, dass meine Eltern brav alles abgeliefert haben, das würde mich wundern, so obrigkeitshörig sind sie wirklich nicht, aber von diesem Zeitpunkt an konnte meine Mutter natürlich keinen
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