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Ein Buch für Hanna

Ein Buch für Hanna

Titel: Ein Buch für Hanna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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Mundwinkeln schienen über Nacht tiefer geworden zu sein.
    Die Kinder starrten hinauf zum Himmel. Flugzeuge brausten über die Stadt wie riesige Vögel, wie Ungeheuer aus einem bösen Traum. Das Brummen wurde hier, an der offenen Balkontür, zu einem Dröhnen.
    Britta sprach die Frage aus, die Hanna im Hals würgte und ihr die Luft nahm. »Heißt das Krieg?«, fragte sie mit einer Stimme, die nichts Kindliches mehr hatte. Auch ihr süßes Puppengesicht sah plötzlich älter aus.
    Herr Golde nahm den Arm von der Schulter seiner Frau und zog seine Tochter an sich. Seine langen Arme hingen wie die Flügel eines lahmen Raben über Brittas hellem Rüschenkleid. »Wir wissen noch nicht, was das heißt, niemand kann das wissen. Einstweilen können wir nur warten. Ihr bleibt jedenfalls heute zu Hause. Keiner geht auf die Straße, habt ihr mich verstanden?«
    »Aber wir wollten heute mit der Klasse ins Museum gehen«, protestierte Britta. »Ich habe mich schon so darauf gefreut.« Auf einmal war sie wieder die verwöhnte Elfjährige.
    »Keine Schule, kein Museum, ihr bleibt zu Hause«, sagte Frau Golde und schob sich eine Strähne aus dem Gesicht. »Du auch, Hanna. Heute gibt’s auch keine Werkstatt.« Jetzt sah Hanna, dass ihre Augen gerötet waren, sie musste geweint haben.
    »Diese blöden Deutschen«, sagte Britta und warf Hanna einen giftigen Blick zu. »Hast du davon gewusst?«
    Ihre Mutter strich ihr über die Haare. »Sei nicht albern, Britta. Hanna ist Jüdin, genau wie du. Mit diesen Nazis hat sie nichts zu tun.«
    »Aber deutsch ist sie trotzdem«, murmelte Britta.
    Hanna zog die Schultern hoch und schaute hinunter auf die Straße. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Die Straße war leer, vollkommen leer, kein Mensch war zu sehen, keine Katze, kein Hund und sogar die Vögel hatten sich irgendwo versteckt.
    Gestern hatte sie sich noch über die ersten grünen Blätter an den Bäumen gefreut, darüber, dass endlich der Frühling anfing, und auf einmal war alles anders. Die grünen Blätter waren bedeutungslos geworden, wichtig waren nur noch die Flugzeuge, die über Kopenhagen donnerten.
    »Ihr geht jetzt in die Küche«, sagte Frau Golde. »Rasmine soll euch das Frühstück machen. Und dann möchte ich, dass ihr ruhig in eurem Zimmer bleibt. Ruhig, verstanden? Ohne Krach und ohne Streit.«
    Sie gehorchten. Auch Rasmine war ernst und bedrückt. »Dieser verdammte Hitler«, sagte sie, als sie ihnen das Frühstück auf den Tisch stellte. »Der Schlag soll ihn treffen! Der Teufel soll ihn holen! Er soll in der Hölle braten!«
    Den ganzen Tag über kamen Leute ins Haus. Hanna zuckte jedes Mal zusammen, wenn die Türglocke ertönte. Sie wusste selbst nicht, was sie daran erschreckte. Es war das Gefühl einer unbestimmbaren Bedrohung, als könne jeden Moment noch etwas anderes passieren, als stünde ihnen eine weitere, noch unheilvollere Nachricht bevor. Doch es waren nur Besucher, die, wenn Rasmine ihnen die Tür aufgemacht hatte, sofort in der Bibliothek verschwanden. Von dort war Stimmengemurmel zu hören, das mal lauter, mal leiser wurde, immer wieder unterbrochen von längerem Schweigen. Und von Zeit zu Zeit gingen alle, die Goldes und ihre Besucher, in den Salon und stellten den Radioapparat lauter, bevor sie in die Bibliothek zurückkehrten.
    Mit den Kindern sprach niemand. Hanna wusste nicht, was sie tun sollte, manchmal stand sie am Fenster, manchmal versuchte sie zu lesen, dann ging sie wieder in die Küche. Aber Rasmine wusste ebenso wenig wie sie, nur dass die Deutschen in Dänemark eingedrungen waren, und sie war ungewöhnlich mürrisch und gereizt, genau wie Britta. Sie fuhrwerkte in der Küche herum, ihr rundlicher Körper, der sich sonst eher wie ein Kreisel drehte, bewegte sich eckig und ungeschickt. Hanna dachte voller Sehnsucht an die Werkstatt und formte in Gedanken Vögel aus Ton, Raubvögel, die zu unheimlichen Drachen anwuchsen. Im ganzen Haus herrschte eine deutlich spürbare Anspannung, gegen die sie sich nicht wehren konnte. Nur Dani schien froh darüber zu sein, dass die Deutschen ihm einen Tag schulfrei beschert hatten. Aber als er, seine Schwester und Hanna auch am nächsten und am übernächsten Tag in ihrem Zimmer bleiben mussten und die Erwachsenen sich nicht um sie kümmerten, fing auch Dani an zu quengeln.
    Am Nachmittag des dritten Tags stand Hanna am Fenster, als sie unten auf der Straße die ersten deutschen Soldaten sah, eine kleine Gruppe von fünf Männern, in Uniform und mit

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