Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Buch für Hanna

Ein Buch für Hanna

Titel: Ein Buch für Hanna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
Vom Netzwerk:
hat Theodor Herzl gesagt, als er von einer Heimstatt für die Juden gesprochen hat? Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen.
    Man muss etwas nur stark genug wollen. Daran soll es bei mir nicht liegen. Ich will.

Fünftes Kapitel
    H anna wachte auf, wie sie sonst nur an Sonntagen aufwachte, tauchte langsam aus einem Traum hoch, nur um wieder abzusinken. Es war, als hätte die Zeit ein Loch bekommen. Dieses Schweben zwischen Schlafen und Wachen wurde nicht von Rasmines Händen an ihren Schultern gestört, nicht von dem üblichen »Hanna, Zeit zum Aufstehen!«. Irgendetwas war heute anders, aber sie war zu verschlafen, um zu verstehen, was es war. Sie fröstelte, ihre Zudecke war vom Bett gerutscht. Sie beugte sich vor, hob die Zudecke auf, wickelte sich hinein und döste weiter vor sich hin. Doch das Gefühl, dass etwas sonderbar war, ließ sie nicht los.
    Sie hatte von Janka geträumt. Im Traum hatten sie nebeneinander auf der Wiese am Elsterbecken gelegen, die Sonne schien, die Blumen blühten und um sie herum flogen Hummeln und erfüllten die Luft mit ihrem Brummen. Viele, viele Hummeln. Gestern Abend hatte sie vor dem Einschlafen noch lange an ihre Freundin gedacht, denn Janka würde heute, am 9. April, ihren fünfzehnten Geburtstag feiern. Sie hatte sich vorzustellen versucht, wie Janka jetzt wohl aussah, ob sie gewachsen war, ob sie ebenfalls Brüste bekam oder vielleicht schon ihre Periode hatte. Mit Janka hatte sie oft über solche Dinge gesprochen. Einmal, es war tatsächlich auf der Wiese am Elsterbecken gewesen, hatte Hanna, die damals noch Hannelore hieß, sich darüber beklagt, dass sie noch immer fast so flach war wie ein Waschbrett. »Was ich habe, sind höchstens zwei Erbsen.« Janka hatte gelacht, doch dann hatte sie gesagt: »Meine Mutter meint, wir wären einfach ein bisschen spät dran, du und ich, das wäre aber kein Grund zur Sorge, nicht alle Mädchen hätten mit dreizehn schon einen Busen.« Und nach einer Pause hatte sie hinzugefügt: »Weißt du was? Ich glaube, ich will nie einen Busen bekommen. Ich glaube, ich will immer ein Kind bleiben.« – »Ich nicht«, hatte Hanna geantwortet.
    Und plötzlich fiel ihr ein, dass heute gar nicht Sonntag war, sondern Dienstag. Wieso hatte Rasmine sie nicht geweckt? Und wieso brummten die Hummeln noch immer um ihren Kopf? Hummeln in einem Kinderzimmer mitten in Kopenhagen? Sie riss die Augen auf. Im Raum war es dämmrig, doch die Lichtstreifen in den Ritzen des Rollladens sagten ihr, dass es schon heller Tag war. Sie hatten verschlafen.
    Noch bevor sie diesen Gedanken zu Ende gedacht hatte, ging die Tür auf, Frau Golde kam herein, ging mit raschen Schritten zum Fenster und zog den Rollladen hoch. »Aufstehen!«, sagte sie mit abgewandtem Gesicht. »Zieht euch an! Euer Vater und ich erwarten euch im Salon.« Hanna bemerkte erstaunt, dass aus ihrem stets korrekt aufgesteckten Knoten unordentliche Strähnen heraushingen.
    »Was ist los, Mama?«, fragte Dani verschlafen, aber seine Mutter, die sonst ihrem »kleinen Mann« gegenüber besonders zärtlich und nachgiebig war, wiederholte nur, sie sollten sich anziehen und in den Salon kommen. Ihre Stimme klang ungewohnt streng und hart, und sie verschwand ohne ein Lächeln, ohne eine weitere Erklärung.
    Die drei sprangen aus den Betten und zogen sich an. Das Brummen war noch lauter geworden. Aber es waren keine Hummeln, natürlich nicht. Es war ein Geräusch, das Hanna noch nie gehört hatte und das ihr Angst machte. Sie meinte es auf ihrer Haut zu spüren, ein Vibrieren, das durch die Poren in ihren Körper drang und sie innerlich erzittern ließ. Sie sah Britta und Dani an, dass auch sie erschrocken und verängstigt waren.
    Aus der Küche war ungewohnt lautes Klirren von Geschirr zu hören, eine Schranktür wurde zugeschlagen, dann fiel etwas krachend auf die Steinfliesen. Im Salon lief das Radio, aber so leise, dass sie den Nachrichtensprecher nicht verstehen konnten, sie hörten nur, wie aufgeregt seine Stimme klang. Herr und Frau Golde standen sehr dicht nebeneinander an der offenen Balkontür und schauten hinaus. Herr Golde hatte den Arm um die Schulter seiner Frau gelegt.
    Nun wandte er den Kopf, winkte die Kinder näher und deutete zum Himmel. »Flugzeuge«, sagte er, »deutsche Flugzeuge. Die deutsche Wehrmacht hat Dänemark überfallen. Bald werden die Soldaten auch in Kopenhagen sein.« Sein langes, schmales Gesicht sah noch länger aus als sonst und die Falten von seinen Nasenflügeln zu den

Weitere Kostenlose Bücher