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Ein Buch für Hanna

Ein Buch für Hanna

Titel: Ein Buch für Hanna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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Gewehren in den Händen. Sie unterhielten sich miteinander, das konnte sie deutlich erkennen, und sie lachten. Worüber lachten sie? Hatte einer einen Witz erzählt? Plötzlich fiel ihr ein, wie lange sie, außer mit Mira und der Gruppe, nicht mehr Deutsch gesprochen hatte. Am liebsten wäre sie hinuntergelaufen und hätte gefragt: Was war das für ein Witz? Doch da waren die Männer auch schon vorbei.
    Hanna war so aufgeregt, dass sie Frau Goldes Anweisungen missachtete und die Tür zur Bibliothek aufmachte. In dem düsteren Raum mit den vielen hohen Bücherschränken an den Wänden und dem großen Tisch in der Mitte wogten blaue Rauchwolken. Zwei Herren saßen mit Herrn und Frau Golde am Tisch, auf dem außer einer Teekanne und Tassen auch eine angebrochene Flasche Aquavit und kleine Gläser standen. Einer der Gäste war ebenso lang und schmal wie Herr Golde, Hanna erkannte ihn, es war sein Bruder. Den anderen Gast, einen älteren, vornehm aussehenden Herrn mit einem grauen Backenbart und einem steifen Kragen, hatte sie noch nie gesehen. Er hielt eine Pfeife zwischen den Lippen und stieß immer wieder Rauchwolken aus. Süßlicher Tabakgeruch hing in der Luft. Hanna blieb verlegen in der Tür stehen.
    »Was ist, Hanna?«, fragte Herr Golde.
    Hanna musste schlucken, bevor sie die Worte herausbrachte: »Gerade sind fünf deutsche Soldaten am Haus vorbeigegangen, in Uniform und mit Gewehren.«
    Herr Golde deutete auf den freien Stuhl neben seiner Frau. »Komm her, Kind.«
    Unsicher setzte sie sich. »An diesen Anblick werden wir uns gewöhnen müssen«, sagte Herr Golde. »Hör zu, ich werde es dir erklären. Letztes Jahr hat Dänemark mit Deutschland einen Nichtangriffspakt geschlossen, aber es hat nichts genützt. Die Deutschen haben unser Land besetzt. Angeblich um zu verhindern, dass wir von den Engländern besetzt werden.«
    »So etwas nennt man die Wahl zwischen Pest und Cholera«, sagte der ältere Herr zornig. Er zog an seiner Pfeife und Rauch quoll aus seinem Mund.
    »Wir waren neutral und wollten neutral bleiben«, fuhr Herr Golde fort. »Aber damit ist es nun vorbei. Die Deutschen sind nicht nur in Dänemark einmarschiert, sondern auch in Norwegen und haben beiden Ländern ein Ultimatum gestellt. Dänemark und Norwegen sollen sich unter den Schutz des Deutschen Reichs stellen und dafür ihre Regierung und ihre politische Unabhängigkeit behalten dürfen. Norwegen unter König Håkon, dem Bruder unseres Königs Christian, hat das Ultimatum abgelehnt und sich für den Krieg entschieden. Aber die dänische Regierung und unser König Christian haben das Ultimatum nach wenigen Stunden der Gegenwehr angenommen.«
    Er schwieg. Hanna spürte, wie es ihr kalt über den Rücken lief, der Ernst und die angespannte Stimmung im Raum waren deutlich spürbar. Sie hatte, als sie die Soldaten sah, nur »Deutsche« in ihnen gesehen, jetzt dachte sie: Es waren deutsche Nazis. Frau Golde schenkte Aquavit aus. Ihr Mann nahm einen Schluck, dann wandte er sich wieder an Hanna. »Unsere Regierung will dem Land die Not und das Elend eines Kriegs ersparen, der sowieso von vornherein verloren wäre. Dänemark ist ein kleines Land und seine Armee ist nicht ausreichend gerüstet, um den Kampf mit einem so mächtigen Gegner wie Deutschland aufzunehmen, verstehst du, was das bedeutet?«
    »Wie soll sie die Bedeutung von etwas verstehen können, was noch nicht mal wir verstehen?«, stieß der ältere Herr aus. Seine Worte wurden von erneuten Rauchwolken begleitet, die sein Gesicht für einen Moment verschwinden ließen, bevor es wieder auftauchte.
    »Ich habe Angst«, sagte Hanna.
    Frau Golde beugte sich zu ihr und umarmte sie. »Wir auch, Hanna, wir haben auch Angst.«
    »Aber im Vergleich zu den Juden in Deutschland und in Polen sind wir hier sicher«, sagte Herr Goldes Bruder, und nach einer Pause fügte er hinzu: »Wir sollten uns jedoch überlegen, ob wir unsere Kinder nicht lieber in eine Internatsschule nach Schweden schicken. Schweden scheint ja seine Neutralität wahren zu können.«
    Frau Golde warf ihrem Schwager einen entsetzten Blick zu. »Vorläufig bleiben die Kinder hier«, sagte Herr Golde und legte seiner Frau beruhigend die Hand auf den Arm.
    Ein paar Tage später, als feststand, dass es zu keinen weiteren Kampfhandlungen kommen und die Regierung im Amt bleiben würde, durften Britta und Dani wieder in die Schule gehen, allerdings nicht allein. Sie wurden von einem jungen Angestellten aus Herrn Goldes Kanzlei begleitet,

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