Ein Buch für Hanna
Soldaten haben kapituliert, der König ist mit seiner Familie nach London geflohen. Jetzt bekommt Norwegen auch einen Reichskommissar.«
»Was ist das, ein Reichskommissar?«, fragte Rachel.
Schula seufzte. »Das ist der Leiter einer deutschen Militärbehörde für besetzte Länder, ein Reichskommissar hat viele Vollmachten und kann alles durchsetzen, was die Deutschen wollen. Genau wie dieser verdammte niederländische Nazi Seyß-Inquart * .«
»Und warum gibt es in Dänemark keinen Reichskommissar?«
»Weil Dänemark kampflos kapituliert hat, deswegen konnte das Land seine Regierung unter König Christian behalten.«
»Wird das so bleiben?«, fragte Mira.
Wieder seufzte Schula. »Wer kann das wissen, auf diese Nazis kann man sich nicht verlassen. Sie haben jetzt schon fast ganz Europa in den Krieg gezogen. Im Moment sind wir hier wie auf einer Insel.«
»Klar, Dänemark besteht doch aus Inseln«, warf Bella ein.
Jetzt lächelte Schula, aber es war ein schiefes Lächeln. »Ich meine doch eine politische Insel, Dummerchen.«
Ebenfalls im Juni begann die deutsche Offensive an der Aisne und der Somme, kurz darauf überschritten die deutschen Soldaten die Seine, am 14. Juni besetzten sie Paris. Schula zeigte ihnen auf einer Landkarte die Bewegung der Truppen. Und sie erklärte ihnen, dass der italienische Diktator Mussolini sich den Deutschen angeschlossen hatte, seine Truppen kämpften gegen die Westalliierten Frankreich und England.
Eine Woche später, beim nächsten Treffen, teilte Schula ihnen mit, sie würden Kopenhagen schon bald verlassen, es werde hier mit den vielen deutschen Soldaten allmählich zu gefährlich für sie. »Wir suchen schon seit Wochen Plätze auf Bauernhöfen für euch, auf Fünen«, sagte sie. »Die Insel ist weit genug von Kopenhagen entfernt, da seid ihr vorläufig sicher.«
»Und du?«, fragte Hanna. »Bleibst du hier?«
»Nein«, sagte Schula, »ich komme mit euch. Ich habe mich erkundigt, das Krankenhaus in Nyborg braucht Krankenschwestern für die Nachtwachen.« Sie strich Hanna über den Kopf. »Für dich haben wir bereits einen Platz gefunden, Hanna. Du bist jetzt auch schon fünfzehn, alt genug, um für deinen Lebensunterhalt zu arbeiten. Und in den letzten Monaten bist du gewachsen und kräftiger geworden.«
Das stimmte. Frau Golde hatte schon mehrmals neue Kleidungsstücke für sie besorgen müssen, die Sachen, die sie aus Deutschland mitgebracht hatte, waren ihr längst zu eng und zu kurz geworden. »Außerdem kommt Mira ganz in deine Nähe«, fügte Schula mit einem freundlichen Lächeln hinzu. »Eure Bauernhöfe liegen nur drei, vier Kilometer voneinander entfernt.«
Mira war erleichtert, von ihren Sklaventreibern, wie sie diese Leute nannte, wegzukommen, und auch die anderen freuten sich darauf, die Stadt verlassen zu können, in der sie sich zunehmend unbehaglicher fühlten. Als würden sie von tausend Augen verfolgt, wie Mira es ausdrückte. Es war Sommer, sie kannten die Arbeit auf dem Land, sie sehnten sich nach Luft und Sonne und körperlicher Betätigung.
Hanna war hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch zu fliehen und dem Wunsch zu bleiben. Am schwersten würde ihr der Abschied von Jesper und Marie und der Werkstatt fallen, das wusste sie.
Die Goldes bedauerten, dass Hanna weggehen würde. »So traurig es ist, die Entscheidung ist richtig«, sagte Frau Golde. »Ich habe immer Angst um dich, wenn du aus dem Haus gehst. Bis jetzt läuft das Leben in Kopenhagen ja einigermaßen normal ab, aber wer weiß, was uns die Zukunft noch bringt. Diese Nazis sind unberechenbar. Sie haben versprochen, uns in Ruhe zu lassen, aber was man aus anderen Ländern hört, ist nicht gerade vertrauenerweckend. Ihre Zusagen sind weniger wert als das Schwarze unterm Fingernagel. Heute versprochen, morgen gebrochen.«
Rasmine wurde ganz blass, als sie erfuhr, dass Hanna bald weggehen würde, und auch Hanna war jetzt schon traurig, wenn sie an den Abschied von Rasmine dachte. Sie hing an dieser Frau, die ihr das Leben leichter gemacht hatte, und was noch wichtiger war, sie fühlte sich von ihr geliebt. In den letzten Tagen vor der Abreise kochte Rasmine alles, was Hanna gern aß, und jeden Tag gab es zum Nachtisch Pudding mit Schlagsahne. »Du musst viel essen«, sagte Rasmine, als sie in der Küche allein waren. »Versprich mir, dass du immer ordentlich isst, wo du hinkommst. Nicht dass du krank wirst.« Hanna versprach es und wischte sich heimlich ein paar Tränen aus den
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