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Ein Buch für Hanna

Ein Buch für Hanna

Titel: Ein Buch für Hanna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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Augen.
    Der Tag der geplanten Abreise rückte näher und damit auch der Abschied von der Werkstatt.
    Hanna stand vor den Regalen und betrachtete die Figuren, die Gnome, die Elfen, die Feen, die Hexen und Zauberer, natürlich auch die Figuren aus ihrem Märchenbuch, die kleine Meernixe, den Tölpelhans, das Däumelinchen, den Sandmann, den Schweinehirten, die Prinzen und Prinzessinnen. Immer wieder nahm sie eine Figur in die Hand und streichelte sie mit den Fingerspitzen. Besonders lange betrachtete sie die Katzenkörbchen, die Jesper und Marie begeistert in ihr Sortiment aufgenommen hatten, nachdem sie Hannas Geschenk für Mira gesehen hatten. »Nimm dir doch ein paar Figuren mit«, sagte Marie, »du kannst dir so viele aussuchen, wie du willst.«
    Hanna zögerte, dann griff sie nach dem Zinnsoldaten, der fest auf seinem einen Bein stand. »Nur den«, sagte sie. »Der musste auch auf eine Reise gehen.«
    Und was für eine Reise, dachte Hanna, ein richtiger Leidensweg. Jetzt fing es an zu regnen und es regnete immer stärker, ja es wurde ein richtiger Platzregen. Als der vorbei war, kamen zwei Gassenjungen daher.
    »Ei, sieh doch, da liegt ein Zinnsoldat!«, sagte der eine. »Der soll eine Seereise machen.«
    Sie machten ein Schiff aus Zeitungspapier, stellten den Zinnsoldaten hinein und ließen ihn den Rinnstein hinuntersegeln: beide Jungen liefen nebenher und klatschten in die Hände. Hilf, Himmel, was sich im Rinnstein für Wellen erhoben! Aber es war ja auch ein Platzregen gefallen. Das Papierboot schwankte auf und nieder und drehte sich von Zeit zu Zeit im Kreise, dass es dem Zinnsoldaten ganz schwindlig wurde; aber er blieb standhaft, veränderte keine Miene, sah geradeaus und schulterte das Gewehr.
    Marie suchte eine schöne, mit blauem Samt gefütterte Pappschachtel und legte die Figur hinein. In ihren Augen standen Tränen.
    Jesper hüstelte. »Wenn alles vorbei ist, kannst du gern zu uns zurückkommen.«
    Und Marie sagte: »Wir werden dich vermissen, Hanna. Ohne dich wird es in unserer Höhle sehr traurig sein …« Ihre Stimme brach, sie weinte. »Wir haben uns an dich gewöhnt, Herzchen.«
    Hanna betrachtete ihr silbernes Armband. »Ich werde euch auch vermissen«, sagte sie. Und das war keine Lüge. Die Arbeit mit dem Ton würde ihr fehlen, das Kneten und Formen und die Freude, wenn ein gelungener Gegenstand aus dem Brennofen kam, ebenso Jespers und Maries verschrobene Liebenswürdigkeit, ihre wortkarge Freundlichkeit.
    Noch einmal ging sie durch die Werkstatt, um Abschied zu nehmen. Zuletzt blieb sie vor dem Bild mit dem Schutzengel stehen.
    »Glaub mir, ich würde dir gern einen Schutzengel mitgeben«, sagte Marie, »einen echten.«
    Als Hanna, die Schachtel mit dem Zinnsoldaten in der Tasche, die Werkstatttür hinter sich schloss und sich auf den Heimweg machte, kämpfte auch sie mit den Tränen.
    Zu Hause fing sie an zu packen. Ganz unten in den Rucksack legte sie das Märchenbuch, die Schachtel mit dem Zinnsoldaten und den Umschlag mit den Fotos ihrer Mutter und ihrer Schwester und den fünf Postkarten, die sie in den vergangenen Monaten von ihrer Mutter bekommen hatte. Obwohl auf allen immer dasselbe stand, nahm Hanna sie oft in die Hand, jede einzelne, betrachtete die etwas krakelige Handschrift ihrer Mutter und stellte sich vor, was sie in diesem Moment wohl tat, welches ihrer wenigen Kleider sie anhatte, was für ein Essen auf dem Herd stand und für wen sie nähte, stopfte oder flickte.
    Über ihre Schätze legte Hanna die Kleidung. Sie merkte schnell, dass ihr Rucksack zu klein für ihre inzwischen angewachsenen Besitztümer war. Frau Golde hatte ihr zu ihrem fünfzehnten Geburtstag neue Sommersachen gekauft, und in den letzten Tagen hatte sie, um Hanna für das Leben auf dem Land zu rüsten, nicht nur einen dicken Trainingsanzug besorgt, sondern auch Gummistiefel, neue feste Halbschuhe und einen wetterfesten Mantel mit Kapuze, auf Zuwachs ausgewählt, weil Hanna im Wachsen war. »Wir schicken dir die Sachen nach«, versprach sie. »Pack jetzt nur ein, was du in der nächsten Zeit brauchst.«
    Trotzdem platzte Hannas Rucksack fast aus den Nähten, und auch der zusätzliche Koffer, den Frau Golde ihr brachte, wurde voll.
    Dann war es so weit. Sie gab allen die Hand und versprach, so bald wie möglich zu Besuch zu kommen und einmal im Monat einen Brief zu schreiben. Dani schlang die Arme um sie und küsste sie und sogar Brittas Puppengesicht zeigte einen traurigen Ausdruck. Hanna war verwundert

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