Ein Buch für Hanna
er holte sie morgens von zu Hause ab und brachte sie nachmittags zurück.
Auch Hanna ging wieder zu Jesper und Marie, die sich sehr freuten, als sie die Werkstatt betrat. »Wir hatten schon Angst, du kommst nicht mehr«, sagte Jesper. Und Marie sagte: »In was für einer Welt leben wir! Diese verdammten Deutschen!« Sie zuckte zusammen, umarmte Hanna und drückte sie an ihren weichen Busen. »Dich meine ich natürlich nicht, Herzchen.«
Hanna befreite sich verlegen und verwirrt aus der Umarmung und machte sich an die Arbeit. Sie wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Die Worte »deutsch« und »Deutsche« waren zu Schimpfwörtern geworden, und sie fühlte sich jedes Mal getroffen, wenn jemand sie in ihrer Gegenwart aussprach. Schließlich waren es ja wirklich die Deutschen, die Dänemark überfallen hatten. Und sie, Hanna, konnte doch nicht jedem einzelnen Menschen erklären, dass sie keine deutsche Staatsbürgerschaft besaß, dass die Deutschen selbst sie nicht als Deutsche anerkannten, auch wenn sie in Deutschland geboren war und sich ihr Leben lang deutsch gefühlt hatte.
Den anderen in der Gruppe ging es nicht viel besser, sie sprachen an ihrem ersten Gruppentreffen nach der Besetzung Dänemarks darüber.
»Es ist eine schwierige Situation«, sagte Schula. »Wir müssen jetzt noch viel vorsichtiger sein. Lasst euch auf der Straße nicht anmerken, dass ihr Deutsch versteht, tut so, als wärt ihr so dänisch wie die anderen auch. Und dass es euch ja nicht einfällt, mit einem deutschen Soldaten zu sprechen. Verhaltet euch so unauffällig wie möglich.«
Meine Mutter hat es schon immer gewusst, dachte Hanna. Ein jüdisches Kind darf nicht auffallen.
»Ich habe geglaubt, wir wären in Dänemark sicher«, sagte Mira. »Und jetzt haben uns diese verdammten Nazis auch hier eingeholt.«
»Können wir nicht in ein anderes Land fahren?«, fragte Bella. »Ich wäre jetzt wirklich lieber in England oder sonst wo.«
Schula seufzte. »Ich auch«, sagte sie. »Aber wir haben keine Wahl, wir müssen es durchstehen. Vielleicht wird es ja gar nicht so schlimm. Aber seid vorsichtig, bitte, seid vorsichtig.«
Hanna war vorsichtig. Zu Hause, in der Werkstatt und bei den Gruppentreffen fühlte sie sich einigermaßen sicher. Ganz anders war es auf der Straße. Wenn sie sich morgens auf den Weg zur Werkstatt machte und wenn sie abends nach Hause ging, hatte sie Angst. Wenn sie deutsche Soldaten traf, musste sie sich zwingen, ruhig an ihnen vorbeizugehen, so wie sie sich zwingen musste, nicht zu reagieren, wenn sie deutsche Worte hörte. Sie war schon vorher nicht gern allein in Kopenhagen herumgelaufen, jetzt bedeutete jeder Schritt vor die Haustür eine Überwindung. Sogar Mira, die sich sonst vor nichts und niemandem fürchtete, zog es vor, bei ihren ungeliebten Gasteltern zu bleiben, jedenfalls besuchte sie Hanna nur noch selten. Sogar an ihrem fünfzehnten Geburtstag kam sie nicht. Dabei hätte Hanna ihr so gern das silberne Armband gezeigt, das Geschenk von Jesper und Marie. Noch nie hatte ihr jemand ein Schmuckstück geschenkt. Nun musste sie bis zum nächsten Gruppentreffen warten, um Mira ihren Schatz zu zeigen.
Im Mai überfielen die Deutschen auch die neutralen Staaten Niederlande, Belgien und Luxemburg und marschierten in Nordfrankreich ein. Schula war ganz aufgeregt, als sie ihnen erklärte, was sie sowieso schon im Radio gehört hatten. Schula war direkt von ihrer Arbeit im Krankenhaus gekommen und trug noch ihre Schwesterntracht. »Nach einer Bombardierung Rotterdams haben die Niederlande kapituliert und die holländische Königin Wilhelmina ist nach London geflohen. Eine Woche lang haben sich die Niederlande gewehrt und das war’s auch schon.« Schula sah auf einmal nicht mehr älter aus als die anderen Mädchen. Sie wischte sich über die Augen. »Ich muss dauernd an meine Brüder denken.«
»Wie alt sind deine Brüder?«, fragte Bella.
»Vierzehn und sechzehn«, antwortete Schula. »Gott sei Dank noch zu jung zum Kämpfen.«
Mira beugte sich zu Hanna und flüsterte ihr ins Ohr: »Noch!«
Schula hatte es zum Glück nicht gehört. Sie wechselte das Thema, offenbar wollte sie nicht länger darüber sprechen, aber die Angst war ihr anzusehen.
Am 10. Juni gab sich auch Norwegen geschlagen. »Churchill hat wegen der deutschen Erfolge in Frankreich den Abzug der Alliierten aus Norwegen angeordnet«, erklärte Schula. »Ich habe es in der BBC gehört. Daraufhin konnte sich Norwegen nicht halten, die
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