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Ein Buch für Hanna

Ein Buch für Hanna

Titel: Ein Buch für Hanna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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richtig. Die Wochen gingen hin, die Erbsen wurden gelb und die Schote wurde auch gelb. »Die ganze Welt wird gelb«, sagten die Erbsen und das durften sie wohl sagen.
    Da tat es eines Tages einen Ruck an der Schote; sie wurde abgerissen, kam in Menschenhände und dann in eine Jackentasche zusammen mit noch mehreren vollen Erbsenschoten. »Jetzt wird uns bald aufgetan werden«, sagten die Erbsen und warteten begierig.
    »Ich möchte nur wissen, wer von uns es am weitesten bringen wird«, sagte die kleinste Erbse. »Das muss sich ja jetzt bald zeigen.«
    »Komme, was kommen mag«, sagte die größte.
    Am Schluss, sie hatten Mira bei einem großen, gepflegten Anwesen abgeliefert, das eher wie ein Gutshof oder wie ein Herrenhaus aussah, saßen nur noch Schula und Hanna auf der einen Bank, die zweite war ganz leer. »Komme, was kommen mag«, sagte Hanna.
    Schula legte ihr die Hand auf den Arm. »Mach dir keine Sorgen, Hanna, so schlimm wird es nicht werden, du schaffst das schon. Und jetzt los, wir sind da.«
    Es war ein Hund, ein mächtiger Schäferhund, die Rasse, vor der Hanna sich am meisten fürchtete, der plötzlich von irgendwoher auftauchte und mit wütendem Bellen auf sie zustürzte. Sie erstarrte, das Blut strömte ihr aus dem Kopf in die Beine und machte sie schwer, sie hatte das Gefühl, im nächsten Augenblick ohnmächtig zu Boden zu sinken, meinte schon zu spüren, wie sich die scharfen Zähne in ihr Fleisch schlugen. Doch im letzten Moment hielt der Hund inne, so plötzlich, dass es war, als würde er von einer Hand zurückgerissen. Er blieb vor ihr stehen, die Beine schräg nach vorn gestemmt, hörte aber nicht auf zu bellen. Sie sah sein aufgerissenes Maul, die gelblichen Zähne, die feucht glänzende, weit heraushängende Zunge, die Augen, die sie anfunkelten, und spürte, wie Schula ihr von hinten die Hände auf die Schultern legte.
    »Ganz ruhig stehen bleiben«, flüsterte sie so nah an ihrem Kopf, dass ihr warmer Atem in Hannas Ohrmuschel blies und über ihren Hals strich.
    Die Haustür ging auf und ein großer, schwerer Mann in einem bunt karierten Flanellhemd und in blauer Arbeitshose trat heraus, auf dem Kopf eine tief in die Stirn gezogene Schirmmütze. Sein Gesicht war nicht zu erkennen, es wurde von einem roten Vollbart fast verdeckt. Er hob die Hand, schob zwei Finger in den Mund und stieß einen lauten Pfiff aus. Sofort hörte der Hund auf zu bellen, seine Hinterläufe knickten ein, hechelnd blieb er vor Hanna sitzen, die jetzt, unter Schulas Berührung, wieder atmen konnte. Ihre Beine hörten auf zu zittern.
    Der Mann kam langsam näher. »Axlan, hierher!«, sagte er. Der Hund bewegte die Ohren nach vorn, stand auf und trottete folgsam zu seinem Herrn hinüber.
    »Ich bin Sigurd«, sagte der Mann mit einer Stimme, die so tief war, dass Hanna das Vibrieren bis in ihren Magen zu spüren meinte. »Ich bin Sigurd Børresen, der Bauer vom Lindenhof.«
    Schula schob Hanna nach vorn. »Das ist Hanna«, sagte sie, »Hanna Salomon.«
    So verlief ihre Ankunft auf dem Hof der Børresens.
    Das Gehöft lag am Rand des Dorfs, halb verdeckt von einer Baumgruppe. Der Fahrer hatte mehrmals fragen müssen, bis er die Einfahrt gefunden hatte. Nachdem das Auto an den Bäumen vorbeigefahren und nach rechts um eine Scheune gebogen war, lag ein großer, zur Hälfte gepflasterter Hofplatz vor ihnen, an drei Seiten eingerahmt von Stallungen und Schuppen. Ein paar Hühner wurden vom Motorgeräusch aufgescheucht und verschwanden flügelschlagend in einer offenen Stalltür. Das Wohnhaus, ein zweistöckiges Gebäude aus hellblau angestrichenem Holz, stand auf der gegenüberliegenden Seite hinter einer riesigen alten Linde mit ausladender Krone, die dem Hof vermutlich den Namen gegeben hatte.
    Erst am nächsten Tag, im Licht der Sonne, würde Hanna sehen, dass die hellblaue Farbe der Holzwände ausgebleicht war und an vielen Stellen abblätterte. Ihr würden die in einer Ecke herumliegenden rostigen Geräte auffallen, die schief hängende Tür eines Schuppens, der bröckelnde Verputz des Kuhstallsockels. Dann würde sie noch deutlicher den Unterschied zu dem weitläufigen, gepflegten Gutshof wahrnehmen, vor dem sie Mira abgesetzt hatten. Doch jetzt dämpfte die beginnende Dämmerung die Farben und legte sich mildernd über die Anzeichen von Verwahrlosung.
    Auf dem Hof lebten außer dem Bauern und seiner kranken Frau, die Hanna erst zu Gesicht bekam, als sie schon über zwei Wochen im Haus war, die Magd Bente und der

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