Ein Buch für Hanna
Stunden in dem großen, eingezäunten Gemüsegarten hinter der Scheune, in dem Hanna gleich am ersten Tag zu ihrem Entzücken Erdbeeren entdeckte, rote, dicke Erdbeeren. »Du kannst dir ruhig welche pflücken«, sagte Bente, die Hannas Blick gesehen hatte. Hanna bückte sich, nahm eine Erdbeere, steckte sie in den Mund und zerdrückte sie mit der Zunge am Gaumen. Der süße Geschmack breitete sich in ihrem Mund aus und einen Moment lang war sie erfüllt von einer ungeheueren Freude. Es war ein Sommer wie im Hässlichen jungen Entlein … Der Sommer draußen auf dem Lande war herrlich! Golden stand das Korn, der Hafer war noch grün, das Heu lag in Haufen und auf den gemähten Wiesen stolzierte der Storch mit seinen langen, roten Beinen. Die Äcker und Wiesen waren von großen Wäldern umgeben, in denen tiefe Seen lagen. Ja wirklich, es war herrlich draußen auf dem Lande.
Hanna gab sich große Mühe, alles richtig zu machen. Sie hatte schon immer zupacken müssen, erst zu Hause, bei ihrer Mutter, dann auf der Hachschara. Sie hatte sich weder auf dem Zeltplatz vor der Arbeit gedrückt noch später in Kopenhagen, bei Rasmine in der Küche, und auch in Jespers und Maries Werkstatt hatte sie immer alles getan, was ihr aufgetragen wurde. Zu arbeiten war also nichts Neues für sie. Aber so unaufhörlich wie hier hatte sie noch nie gearbeitet, so ohne Pause, vom Moment des Aufstehens bis zum Schlafengehen.
Einen Unterschied gab es allerdings, der ihr langsam klar wurde: Hier auf dem Land arbeiteten die Menschen anders als in der Stadt, ihre Bewegungen waren langsamer und bedächtiger, es fehlte die Eile, das Getriebensein. Hanna fragte sich, ob es nur daran lag, dass man hier sowieso nie mit etwas fertig wurde, dass immer der nächste Handgriff wartete, oder daran, dass diese Handgriffe den Bauern seit Generationen im Blut lagen und ausgeführt wurden, ohne dass sie auch nur eine Sekunde darüber nachdenken mussten. Oder vielleicht nur daran, dass es hier im Dorf nichts anderes gab als Arbeit, keine Ablenkung, kein Kino, keine Einladungen, keine abendlichen Vergnügungen, keine Besuche. Außer dem Arzt, der alle drei, vier Wochen auftauchte, um nach der kranken Bäuerin zu sehen, kamen nur Mathilde, die Schwester des Bauern, und ihr Mann Thorvald gelegentlich vorbei. Man arbeitete von morgens bis abends, und wenn man sich schlafen legte, wusste man, dass man am nächsten Tag wieder genauso arbeiten würde wie am vergangenen.
Der Bauer und Morten holten morgens nach dem Frühstück den Gaul aus seiner Box hinten in der Scheune, spannten ihn vor einen Leiterwagen und fuhren mit ihm aufs Feld, denn manche der Äcker, welche die Bäuerin mit in die Ehe gebracht hatte, lagen mehrere Kilometer vom Hof entfernt, schon an der Grenze zum Nachbardorf. Oft nahmen sie belegte Brote und eine Thermoskanne mit Kaffee mit, und manchmal kamen sie zum Mittagessen nach Hause, aber auch dann gab es nur Brote oder Reste vom Vortag oder mal eine Suppe. Erst zum Abendessen wurde eine richtige Mahlzeit gekocht. Auch bei Goldes hatte es erst abends ein warmes Essen gegeben, in Dänemark schien das üblich zu sein.
Nachmittags, nach der Schule, kam Rasmus, ein dreizehnjähriger Junge, stämmig, flachsblond und mit abstehenden Ohren, und half bei der Arbeit. »Er ist der zukünftige Bauer«, erklärte Bente, als Hanna sie nach ihm fragte. »Er ist der Sohn von Mathilde, der Schwester des Bauern, die den Dorfschmied geheiratet hat. Rasmus ist ihr Zweitgeborener, und weil der Bauer und seine Frau kinderlos geblieben sind, wird der Junge später mal den Hof übernehmen. Deshalb ist es nur recht und billig, dass er hier mitarbeitet, als wäre er der Sohn des Hauses.«
Zuweilen wurde Hanna zusammen mit Rasmus zum Hacken auf einen Acker geschickt. Bei den ersten Malen tat ihr nach ein paar Stunden der Rücken so weh, dass sie die Hacke fallen ließ und sich am liebsten auf die Erde gelegt und geweint hätte, doch sie genierte sich vor dem Jungen, der immerhin zwei Jahre jünger war als sie und trotzdem arbeitete wie ein Alter. Dann dachte sie auch an ihre Schwester Helene, die sie in Gedanken jetzt tatsächlich manchmal Lea nannte und die in Palästina ebenfalls schwere Feldarbeit verrichten musste. Diese Vorstellung gab ihr wieder Mut, sie hob die Hacke auf und arbeitete weiter. An den ersten Abenden schmierte ihr Bente vor dem Schlafengehen eine übel riechende Salbe auf die Hände, gegen die Blasen, die sich gebildet hatten. Die offenen Wunden
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