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Ein Buch für Hanna

Ein Buch für Hanna

Titel: Ein Buch für Hanna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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die Hausbewohner hinauf. Hanna betrat hinter dem Bauern und Morten das Schlafzimmer. Obwohl es inzwischen Abend geworden war, stand das Fenster weit offen, um frische Luft hereinzulassen, doch der säuerliche Geruch nach Ausscheidungen hing noch immer im Raum und ließ sich nicht vertreiben. Auf den Nachttischen brannten zwei Kerzen, der Spiegel über der Waschkommode war mit einem Tuch zugehängt, das Pendel der Uhr an der dem Bett gegenüberliegenden Wand war angehalten.
    Die Tote trug ein schwarzes Kleid mit einem hellen Spitzenkragen und lag, das Kinn mit einem weißen Tuch hochgebunden, auf dem frisch bezogenen Bett. Ihre Hände waren über dem Bauch gefaltet. Hanna fiel auf, wie knochig und fleischlos die Finger waren, die sonst immer unter der Decke gelegen hatten. Die Bäuerin sah ganz anders aus, als Hanna sie in Erinnerung hatte, sehr weiß und schön und friedlich, der vorher verzerrte Mund war entspannt, fast als würde sie lächeln. Bente hat recht, dachte Hanna, sie ist erlöst, man kann es deutlich sehen.
    Alle fünf standen sie da, mit zusammengelegten Händen, und betrachteten die tote Frau. Mathilde schluchzte. Ein verirrter Nachtfalter flatterte um eine der Kerzen. Niemand rührte sich. Es war so still im Zimmer, dass man das leichte Zischen hörte, mit dem der Falter verbrannte.
    Andersen schreibt im Sandmann , dass der Tod nichts Schlimmes ist, dachte Hanna, da steht: » Draußen wirst du meinen Bruder sehen, der auch ein Sandmann ist, denn auch er schließt den Menschen die Augen, aber er kommt zu jedem nicht mehr als einmal. Draußen wirst du meinen Bruder, den anderen Sandmann, sehen; man nennt ihn den Tod. Er sieht aber gar nicht abschreckend aus wie im Bilderbuch, wo er nichts anderes als ein Knochengerippe ist. Nein, er hat ein silbergesticktes Kleid an, die allerschönste Husarenuniform, und ein Mantel von schwarzem Samt flattert über den Rücken seines Pferdes hin. Sieh nur, er reitet im Galopp!«
    »Der Tod ist der allerbeste Sandmann«, sagte Hilmar. »Vor ihm fürchte ich mich nicht.«
    »Du brauchst dich auch nicht vor ihm zu fürchten«, sagte der Sandmann. »Sorge nur dafür, dass du ihm ein gutes Zeugnis zeigen kannst …«
    Erst als unten an die Haustür geklopft wurde, lösten sie sich aus ihrer Starre und gingen hinunter. Es waren Nachbarn, die unbeholfen und mit ernsten Gesichtern ihr Beileid ausdrückten, Nachbarinnen, die mit Bente und Mathilde die Totenwache halten wollten. Aus einem unbestimmten Gefühl der Verpflichtung heraus, weil sie schließlich in dem Haus lebte, dessen Herrin die Tote gewesen war, setzte sich Hanna zu den Frauen, die beteten oder sich leise unterhielten. Doch Bente schickte sie nach kurzer Zeit ins Bett. »Geh schlafen«, sagte sie, »du musst dich ausruhen. Die nächsten Tage werden schwer sein.«
    Die drei Tage, in denen die Beerdigung vorbereitet wurde, waren wirklich schwer. Brot und Kuchen mussten gebacken und das Haus geputzt werden. Nachbarn brachten zusätzliche Tische und Stühle für das Wohnzimmer und die Küche, Bente bügelte die weißen Tischdecken, die so lange unbenutzt im Schrank gelegen hatten, dass die Faltkanten vergilbt und brüchig geworden waren. Am Tag der Beerdigung selbst blieb Hanna zu Hause und richtete die belegten Brote für die Trauergäste her, die nach der Kirche und dem Friedhof zum Leichenschmaus ins Haus kamen. Es wurde gegessen und getrunken, der Bauer, der in seinem schwarzen, etwas zu engen Anzug sonderbar fremd aussah, schenkte den Männern Aquavit ein, man rauchte Zigarillos, auch manche der Frauen steckten sich eine dieser stinkenden, dünnen Zigarren an, man trank und die Stimmung wurde immer ausgelassener. Nur Bentes Gesicht blieb wie versteinert. Sie war so blass, dass das Feuermal auf ihrer Wange wie dunkelrote Glut leuchtete. Unermüdlich lief sie hierhin und dahin, schnitt Kuchen, füllte Kaffeetassen auf, servierte kleine belegte Brote und lächelte nicht.
    Auch am Tag darauf schaute sie Hanna nicht an und sagte kein Wort. Abends, als Morten bereits ins Bett gegangen war und der Bauer drüben im Wohnzimmer seine Zeitung las, hielt Hanna es nicht mehr aus. Während sie das Geschirr, das Bente gespült und abgetrocknet hatte, in den Schrank räumte, fragte sie: »Warum bist du so traurig? Du hast doch gesagt, sie wäre erlöst.«
    Bente warf ihr einen zornigen Blick zu, und Hanna fügte entschuldigend hinzu: »Ich habe gedacht, du wärst erleichtert, immerhin hast du jetzt viel weniger Arbeit, und

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