Ein Buch für Hanna
nichts mehr von ihrer Mutter gehört. Sie vermied es, zu oft an sie zu denken, es machte sie jedes Mal traurig und hilflos. Auch der Kontakt zu den Goldes schlief allmählich ein. Letztes Jahr hatte sie ihnen noch geschrieben, zwar nicht ein Mal im Monat, wie sie es versprochen hatte, aber doch dann und wann. Im Lauf des Winters waren ihre Briefe allerdings seltener geworden und damit auch die Antworten der Goldes. Hanna erinnerte sich schon nicht mehr, wann sie den letzten Brief erhalten hatte. Schade, dachte sie.
Der September brachte Rosch Haschana * , das jüdische Neujahrsfest. Der Vorabend fiel in diesem Jahr auf einen Sonntag, den 21. September. Hanna radelte hinter Mira her nach Nyborg. Sie freute sich auf die Feier, auf die Lieder und die guten Wünsche.
Doch als sie dann im Zentrum beisammensaßen, wollte einfach keine Stimmung aufkommen. Dabei hatte Schula mit Frau Abrahamson, mit der sie sich inzwischen angefreundet hatte und die sie Inger nannte, dänisches Smørrebrød hergerichtet, mit Käse und verschiedenen geräucherten Fischen, mit Meerrettich, sauren Gurken und eingelegtem Gemüse. Inger Abrahamson hatte ihnen zur Feier des Tages Apfelsaft, Holunderbowle und zwei Flaschen Wein spendiert. Mira hatte einen Korb Äpfel mitgebracht, die besten, die sie auf dem Hof hatten, und Rebekka ein Glas Honig. Sie saßen da und kauten auf den Köstlichkeiten herum wie auf altbackenem Brot, und die in Honig getauchten Apfelstücke schoben sie fast angeekelt in den Mund, als handle es sich um wurmstichiges Fallobst.
»Hitler schickt seine Gewitterwolken bis nach Dänemark«, sagte Hanna bedrückt. »Wie soll unter diesen Umständen das neue Jahr süß werden?«
Da hob Mira das Glas Wein, das sie gerade in der Hand hielt, leerte es auf einen Zug und rief laut: »Hört endlich auf, solche Gesichter zu machen! Die Nazis bilden sich ein, sie könnten immer gewinnen, aber ich sage euch, diesmal haben sie das Maul zu voll genommen, aus diesem Sieg wird nichts. Russland wird ihr Untergang, auch wenn es heute noch nicht so aussieht. Verlasst euch drauf, Russland ist der Anfang der großdeutschen Niederlage. Schon Napoleon ist an Russland gescheitert, und wie grandios er gescheitert ist! Hitler wird es nicht besser ergehen. Am Schluss werden wir es sein, die es schaffen. Wir werden nach Palästina fahren, wenn nicht im nächsten Jahr, dann im übernächsten.«
Ihre Worte wirkten befreiend. Alle lachten, auch Hanna, und alle riefen: »Nächstes Jahr in Jerusalem.«
Hanna war sehr stolz auf Mira. Ihre Freundschaft bedeutete ihr viel, auch wenn sie manchmal darunter litt, dass sie sich gegen die Ältere nicht wehren konnte. Ihr war aber klar, wie viel sie Mira zu verdanken hatte. Nicht nur bei Tieren gab es eine feste Rangordnung, wie sie es bei den Schweinen, den Hühnern und sogar bei den gemütlichen Kühen beobachten konnte, sondern auch die Menschen kämpften innerhalb einer Gruppe um ihre Stellung. Abgesehen von Schula, die als Madricha sowieso außerhalb stand, war Mira die Erste. Mira war unangreifbar. Direkt nach ihr kamen Rebekka und Rachel, doch um die anderen Positionen wurde immer wieder gestritten. Bella und Rosa fingen manchmal grundlose Kabbeleien an, ebenso wie Eva und Elisabeth, die in Berlin sogar Nachbarskinder gewesen waren. Und wenn die mausgraue Estherke aus Dresden, die in Dänemark noch mausgrauer geworden war, etwas sagte, erntete sie oft nur Spott und Gelächter. Hanna wurde nicht ausgelacht, egal was sie sagte, ihr gegenüber verhielten sich alle freundlich und nachsichtig. Das lag nur daran, dass sie unter Miras Schutz stand. Und was Mira sagte, galt, nicht nur Hanna fügte sich ihren Wünschen und Forderungen.
Mira war, was ihre eigenen Gefühle betraf, sehr zurückhaltend und zeigte nur selten, was in ihr vorging. Zum Beispiel einmal, als sie mit Hanna und Axlan einen Spaziergang zu dem alten Gutshof außerhalb des Dorfs machte, der schon halb zerfallen war, weil die Besitzer, wie Bente gesagt hatte, nach Kopenhagen gezogen waren und sich um nichts kümmerten. Unterwegs fing Mira davon an, dass sich die Söhne ihrer Bauersfamilie nicht nur ständig stritten, sondern einander oft so heftig verprügelten, dass es blutige Nasen gab.
»Und alles wegen nichts und wieder nichts«, sagte sie. »Mal geht es um einen Ball oder ein anderes Spielzeug, dann wieder darum, wer als Erster irgendetwas machen darf oder wer was gesagt hat.« Sie schwieg eine Weile und tätschelte Axlan, der sie wie immer
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