Ein Buch für Hanna
eigentlich war das doch kein Leben, nicht wahr?«
Bente ließ sich auf einen Stuhl fallen und fuhr sich mit dem Küchenhandtuch, das sie noch in der Hand hielt, über die Augen. »Komm zu mir, Hanna.«
Hanna setzte sich auf den Stuhl gegenüber und stützte die Arme auf. Der Tisch war noch feucht vom Abwischen.
»Ich bin wirklich sehr traurig, dass die Frau gestorben ist«, fing Bente an, und Hanna dachte, sogar jetzt, nach ihrem Tod, nennt sie sie immer noch »die Frau«, nie »Frau Børresen« oder wenigstens »die Bäuerin«.
»Die Frau war immer gut zu mir«, fuhr Bente fort. Es fiel ihr sichtlich schwer zu sprechen. »Du musst wissen, sie war die Einzige, die bereit war, mich in ihr Haus aufzunehmen, so wie ich aussehe …« Stockend erzählte sie, dass sie schon als Kind wie eine Aussätzige behandelt worden war, nicht nur von den anderen Kindern in der Schule, sondern auch von ihren Geschwistern. Sie hob die Hand, berührte ihr Feuermal. »Hexenzeichen haben sie es genannt, Teufelsabdruck. Niemand wollte etwas mit mir zu tun haben. Deshalb bin ich auch selten zur Schule gegangen, meist habe ich mich in der Scheune versteckt und habe gewartet, bis die anderen Kinder aus dem Schulhaus gekommen sind. Jetzt weißt du, warum ich nicht lesen und schreiben gelernt habe.«
»Und deine Mutter?«, fragte Hanna.
»Meine Mutter hat mich nie in den Arm genommen, ich war für sie eine Missgeburt. Ich glaube, sie hat mir immer übel genommen, dass ich nicht gleich nach der Geburt gestorben bin wie die Zwillinge, die sie ein Jahr nach mir auf die Welt gebracht hat.«
Hanna starrte Bente an. Am liebsten hätte sie die Frau gestreichelt und getröstet, so wie diese es mit ihr in jener Nacht getan hatte, aber etwas, was sie selbst nicht verstand, hielt sie zurück, sie wagte es nicht.
Bente sprach weiter: »So war es auch, als ich eine Stelle als Magd gesucht habe, niemand wollte mich nehmen, alle hatten Angst, mein Anblick könnte sogar das Vieh dazu bringen, zu verwerfen. Und dann habe ich gehört, dass auf dem Lindenhof eine Magd gesucht wird, und bin hingegangen. Die Frau hat mich lange angeschaut, ohne ein Wort zu sagen. Ich drehte mich schon um und wollte weggehen, da hat sie auf einmal gesagt: ›Du kannst bleiben, ich sehe dir an, dass du brav und fleißig bist. Also enttäusche mich nicht.‹ Seither bin ich auf dem Lindenhof, und ich habe mir immer große Mühe gegeben, sie nicht zu enttäuschen. Sie hatte ein gutes Herz, die Frau, Gott wird es ihr lohnen.«
»Und der Bauer?«, fragte Hanna.
»Der Bauer?« Bente lächelte ein trauriges Lächeln. »Der Bauer sagt nicht viel, aber er ist ein braver Mann. Er und die Frau haben eine gute Ehe geführt, bis zu ihrer Krankheit. Davor hat er sogar manchmal gelacht und einen Scherz gemacht.« Sie wischte sich noch einmal über die Augen. »Was für ein Unglück! Das hat die Frau nicht verdient und der Bauer auch nicht.« Sie hob den Kopf, schaute Hanna an. »Übrigens hat er sofort Ja gesagt, als der Pfarrer ihn gefragt hat, ob er bereit sei, ein jüdisches Mädchen aus Deutschland aufzunehmen. Das hat nicht jeder getan. Er hat Ja gesagt, obwohl er keine Juden kannte, ebenso wenig wie ich.« Sie verzog den Mund und zuckte mit den Schultern, als wolle sie sich entschuldigen. »Morten kannte übrigens auch keine Juden, aber das hast du ja gemerkt. Du solltest es ihm nicht übel nehmen, er ist ein bisschen einfach im Kopf.«
Hanna nickte. Bente stand auf, schüttelte das Küchenhandtuch aus und hängte es über die Stange des noch warmen Herds. »Und jetzt komm, Kind, es wird Zeit fürs Bett.«
Hanna konnte lange nicht einschlafen. Sie machte sich Vorwürfe, hatte das Gefühl, versagt zu haben. Sie hätte Bente umarmen sollen. So wie sie ihre Mutter am Bahnhof von Leipzig hätte umarmen sollen. Und wie damals war es jetzt zu spät, sie hatte den richtigen Zeitpunkt verpasst. »Vorüber, vorüber«, sagte der arme Baum. »Hätte ich doch mein Leben genossen, als es noch Zeit war. Vorbei, vorbei!«
Schula
Jakob Korn, Inger Abrahamsons Bruder, hat mir einen Heiratsantrag gemacht und mich damit in tiefste Verwirrung gestürzt. Ich habe Kobi einige Male bei Inger getroffen, wenn er sie besucht hat, und wir haben uns gut unterhalten, aber mehr ist nicht passiert, sein Brief mit dem Antrag kam völlig überraschend. »In diesen Zeiten ist es nicht gut, dass der Mensch allein sei«, hat er geschrieben. Er habe bereits mit seinen Eltern und seiner Schwester gesprochen, und
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